Interview mit Zafer, einem sozialistischen Aktivisten im Gezi-Park, in der Nähe des Taksim-Platzes, am Sonntag (2. 6. 2013) Abend.
Es gibt jetzt eine Massenbewegung, was sind die Gründe für sie?
Diese Massenbewegung begann vor etwa fünf Tagen. Etwa fünfzig Menschen waren auf den Straßen, um das Fällen von Bäumen im Taksim-Gezi-Park zu verhindern. Am ersten Tag wurden diese fünfzig Menschen von der Polizei angegriffen. Am ersten Tag war die Hauptforderung, das Fällen der Bäume zu stoppen und den Taksim-Gezi-Park nicht zu zerstören. Die Regierung möchte das Gebiet umbauen und die Protestierenden wollten das aufhalten. Dies waren die ersten Tage. Aber innerhalb einer kurzen Zeit verwandelte sich das in eine Massenbewegung gegen die AKP-Regierung und die autoritäre Politik der AKP [Adalet ve Kalkınma Partisi; Partei für Gerechtigkeit- und Aufschwung] Und jetzt richten sich die Forderungen gegen die AKP-Regierung.
Warum war es wichtig, gegen die Zerstörung des Gezi-Parks zu kämpfen?
Der türkische Kapitalismus beruht besonders auf der Bauwirtschaft. Und in den vergangenen Jahren, besonders unter der kapitalistischen Rezession, entwickelte sich die Bauwirtschaft überall in Istanbul. In Istanbul werden überall die Plätze für arme Menschen zerstört für den Umbau. Die alten Plätze verändern sich. Die Stadt wird umgestaltet und unsere Regierung, die AKP-Regierung hat keine Toleranz, keinen Willen, mit den Menschen zu reden. Es gibt kein Verhandeln, keine andere Toleranz. Also sagten die Leute: genug. Das ist genug.
Was war die Entwicklung der Bewegung? Was geschah, nachdem die Regierung den Park angegriffen hat?
Ja, das ist sehr wichtig. Am ersten Tag waren nur 50 Menschen da. Die Polizei griff sehr hart an. Sie verletzten die Leute. Und am nächsten Tag waren hier 10.000 Menschen, hier auf dem Taksim-Platz, die auf dem Platz blieben, und am Morgen griff die Polizei die 10.000 Menschen an und am nächsten Tag waren da 100.000 Menschen. Die 100.000 Menschen wurden von der Polizei angegriffen und gestern waren Millionen in der ganzen Türkei auf der Straße. Es ist eine sehr leichte, sehr kleine Forderung, nicht die Bäume im Taksim-Gezi-Park zu fällen. Aber auf diese kleine Forderung reagierte die Regierung mit diesem harten Angriff. Und jetzt sind Massen von Menschen hier im Park und ihre Forderungen greifen die Regierung an.
Jetzt sind Hunderttausende hier auf dem Platz und fordern den Fall der Regierung. Was kann – deiner Meinung nach – ein notwendiger nächster Schritt zum Sturz dieser Regierung sein?
Es ist jetzt sehr schwierig, etwas zu sagen, wie es sich entwickelt. Denn am ersten Tag waren die Forderungen zum Schutz des Taksim-Gezi-Platzes und jetzt gibt es die Wut auf die Regierung. Niemand weiß, was es das nächste Mal geben wird. Aber wir leben definitiv in einer sehr geschichtsträchtigen Zeit. Vielleicht sehen wir gerade die Saat der türkischen Revolution. Vielleicht geht es los. Ich sage nicht, dass dies schon eine Revolution ist, aber es enthält die Saat der Revolution. Deshalb denke ich, dass in der türkischen Geschichtsperiode diese letzten fünf Tage sehr entscheidend waren, es waren historische Tage. Danach wird sich alles ändern. Denn die Leute gehen über die Wut hinaus, gehen über ihre Ängste hinaus. Jetzt haben die Leute keine Angst mehr. Leute haben keine Angst vor Tränengas, Leute haben keine Angst vor Polizeiangriffen, Leute haben Selbstvertrauen. Wenn man an die vergangenen Jahre denkt, ist das, was wir hier sehen, sehr neu.
Was ist die Rolle von ArbeiterInnen in dieser Bewegung?
Der Beginn dieser neuen Periode ist die sehr starke Verbindung zu den Arbeiterkämpfen und der Gewerkschaftsbewegung. Denn in den letzten sechs Jahren riefen die Gewerkschaften zu Erster-Mai-Demonstrationen auf dem Taksim-Platz auf, und an nur zwei Jahren gab die Regierung die Erlaubnis. In den anderen Jahren griff die Regierung sehr hart und brutal an. Für die Arbeiterbewegung ist dieser Platz, der Taksim-Platz, sehr wichtig. Denn am Ersten Mai 1977, als die Arbeiterbewegung in der Türkei im Aufsteigen war, gab es einen großen Angriff der Gegenguerilla und etwa 40 Menschen wurden dort getötet. Deshalb ist dies für die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften ein sehr wichtiger Platz. Deshalb sind die Gewerkschaften Teil des Kampfs. Deshalb gibt es eine starke geschichtliche Verbindung. Aber es ist ungewiss, ob das bedeutet, dass es heute eine Verbindung geben wird. Aber morgen gibt es einen Lehrerstreik in der Türkei. Und die Metallarbeiter versuchen, sich auf einen Streik vorzubereiten. Und allgemein denke ich dass der Sieg und die Bewegung hier von ArbeiterInnen inspiriert sind und umgekehrt. Diese Bewegung kann eine Inspiration für die Arbeiterklasse sein. Viele Dinge sind jetzt ungewiss, aber ich denke, die vergangenen Tage haben wirklich alles geändert.
Hinweis:
Die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KESK kündigte am Morgen, nachdem dieses Interview gemacht wurde, einen dreitägigen Streik an.