Friedensprozess zur Lösung der kurdischen Frage vor dem Aus
Wenige Monate nach Einleitung des Friedensprozesses in der Türkei scheint dieser gescheitert. Magere Zugeständnisse für die in der Türkei lebenden KurdInnen und die Unterstützung Erdogans für islamistische Gruppen, um die syrisch-kurdische PYD (Partei der Demokratischen Union) / YPG (Volksverteidigungseinheiten) zu bekämpfen, haben zu neuen Protesten von KurdInnen gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan geführt.
von Inci Arslan, Berlin
Wochenlang war über das sogenannte Demokratisierungspaket spekuliert worden. Erdogan hatte vollmundig angekündigt, dieses werde enorme Verbesserungen bezüglich der Rechte aller TürkInnen bedeuten und „einige Teile der Gesellschaft verblüffen“. Stattdessen hat das Paket Empörung und Wut hervorgerufen.
Fast nichts drin im „Demokratisierungspaket“
Im Kern bedeuten die Reformen, dass auch Kurden Kopftuch tragen dürfen, spottete ein Kommentator kurz nach der Verkündung der Inhalte des Pakets am 30. September. Diese Anspielung auf die weitestgehende „Reform“, die Aufhebung des Kopftuchverbotes an öffentlichen Behörden (mit Ausnahme von Justiz, Polizei und Armee) nämlich, trifft den Nagel auf den Kopf. Denn während Erdogan mit diesem Schritt vor allem seine eigene Basis glücklich macht, werden zentrale Forderungen der kurdischen Bewegung nicht einmal ansatzweise erfüllt. Weder wird die undemokratische Zehn-Prozent-Hürde bei Wahlen aufgehoben, die vor allem die kurdischen Parteien (derzeit unter dem Namen BDP – Partei des Friedens und der Demokratie) benachteiligt, noch wurde der kurdischsprachige Unterricht an staatlichen Schulen legalisiert.
Die Abschaffung eines grotesken Gesetzes aus dem Jahre 1928, das die Verwendung der nur im Kurdischen nicht jedoch im Türkischen vorkommenden Buchstaben Q, W und X verbietet, sowie die Wiedereinführung kurdischer Ortsnamen sind weniger als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. Die soziale Lage bleibt prekär, die politische Diskriminierung von KurdInnen als nationale Minderheit in der Türkei wird weiter aufrechterhalten, ohne auch nur symbolische Zugeständnisse an die Autonomie der Kommunen im Südosten, wie es unter anderem die BDP gefordert hatte, zu machen. Das Ziel eines unabhängigen Kurdistans hatte die kurdische Bewegung offiziell schon vor Jahren – im Zuge einer Neuaufstellung der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) nach der Inhaftierung Abdullah Öcalans – aufgegeben.
Die Verfolgung von kurdischen AktivistInnen und JournalistInnen, die auch unter Erdogan uneingeschränkt fortgesetzt wurde, wird ebenso wenig einem neuen Kurs weichen wie die Anti-Terror-Gesetze. Heute sitzen mehr JournalistInnen – ein großer Teil von ihnen KurdInnen – in türkischen Gefängnissen als 1980, unmittelbar nach dem Militärputsch.
Das „Demokratisierungspaket“ sollte eine Antwort auf die Drohung der PKK vom September sein, den im Frühjahr 2013 vereinbarten Friedensprozess zu beenden. Diese hatte völlig zu Recht bemängelt, dass trotz des begonnen Abzugs der PKK-KämpferInnen aus den kurdischen Gebieten im Südosten des Landes Erdogan nichts zur Verbesserung der Lage der kurdischen Minderheit getan habe.
Ein halbes Jahr nach der Verkündung des Friedensprozesses …
Im März dieses Jahres – um das kurdische Newroz-Fest herum, an dem über eine Million Menschen (mehr als je zuvor) teilnahmen – war Öcalans Botschaft, der bewaffnete Kampf sei nach 30 Jahren und 40.000 Toten vorbei, verlesen und am 23. März von der PKK der Waffenstillstand verkündet worden.
Damit verbunden waren – trotz berechtigter Skepsis unter Teilen der KurdInnen – große Hoffnungen auf umfassende Zugeständnisse der türkischen Regierung, die diese im Gegenzug für den Rückzug der PKK-Guerilla versprochen hatte.
Hintergrund des Friedensprozesses war, dass sowohl die PKK als auch die türkische Regierung in einer Sackgasse steckten. Erstere, da sie aufgrund ihrer Ideologie nicht in der Lage war, eine Lösung der Kurdenfrage zu erreichen, die letztlich nur durch eine Verbindung mit dem türkischen Teil der Arbeiterklasse möglich ist, aber gleichzeitig den bewaffneten Kampf wegen der Repressionen und Militäraktionen des türkischen Militärs nicht einstellen konnte. Auf der anderen Seite musste die türkische Regierung einsehen, dass die PKK militärisch nicht zu schlagen ist und hatte gleichzeitig aufgrund ihrer eigenen machtpolitischen Agenda ein Interesse daran, das Angebot der PKK zum Waffenstillstand anzunehmen.
… bleibt die kurdische Frage in der Türkei ungelöst
Knapp ein halbes Jahr, nachdem der Friedensprozess eingeleitet wurde, kann dieser nun als gescheitert bezeichnet werden. Die PKK hat die getroffene Abmachung einseitig erfüllt, Erdogans AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ihre Versprechen gebrochen.
Die Türkei von heute ist nicht die Türkei von vor einem halben Jahr. Dies hat vor allem zwei Gründe. Zum einen hat die inspirierende Bewegung, die sich aus den Protesten um den Istanbuler Gezi-Park entwickelt hatte, zum ersten Mal seitdem die AKP an der Macht ist, der Opposition eine Stimme gegeben. Auch wenn es in dieser Bewegung nicht vordergründig um die Belange der kurdischen Bewegung ging, haben die Gezi-Park- und Anti-Erdogan-Proteste den entscheidenden Grundstein für eine neue Welle von Klassenkämpfen in der Türkei gelegt und damit auch die Weichen für eine wirkliche Lösung der kurdischen Frage gestellt.
Erdogan und seine Regierung haben durch die brutale Vorgehensweise gegen DemonstrantInnen mehr als deutlich gemacht, wie sie mit Protesten und demokratischen Forderungen umgehen. Das hat auch Hoffnungen von KurdInnen in den vereinbarten Demokratisierungsprozess gedämpft.
Zum zweiten hat die Lage in Syrien Nordkurdistan (also den Südosten der Türkei) mehr denn je zum geopolitischen Knotenpunkt gemacht. In Rojava, dem syrischen Teil Kurdistans, kämpfen die mit der PYD (syrische Variante der PKK) verbundenen 20.000 Männer und Frauen der YPG-Milizen gegen islamistische und syrische Truppen, aber auch für kurdische Autonomie in der Region. Die YPG gehören nach allem, was man weiß, zu den wenigen Kräften, die in diesem Bürgerkrieg überhaupt noch die progressiven Ziele der Anti-Assad-Bewegung von 2011 verteidigen.
Ende September wurde bekannt, dass Erdogan und die AKP die syrische Al-Qaida (ISIS) sowie die islamistische Al-Nusra-Front gegen die PYD/YPG unterstützen.
Was tun?
Dies zeigt, dass mit Erdogan und Konsorten keine Gleichberechtigung, kein Ende der Unterdrückung und Diskriminierung möglich sein wird. Will die kurdische Bewegung mehr erreichen, muss sie weiter kämpfen, jedoch nicht mit einer aussichtslosen Guerillataktik, wie sie die PKK 30 Jahre lang verfolgt hat, sondern gemeinsam mit der türkischen Arbeiterklasse, die wiederum – anders als es die kemalistische Linke in der Vergangenheit getan hat – kurdische Forderungen anerkennt und ihnen das Recht auf die Bildung eines eigenen Staates garantiert. Einen hoffnungsvollen Anfang hat die Formation HDK (Demokratischer Kongress der Völker) / HDP (Demokratische Partei der Völker) – als bisher weitestgehender Versuch, linke türkische und kurdische Kräfte zusammenzubringen – gemacht.
Sozialistische Föderation des Nahen Ostens und Europas
Ein kurdischer Staat wird auf kapitalistischer Grundlage niemals wirkliche Unabhängigkeit erfahren. Auch wenn eine autonome Region Kurdistan theoretisch denkbar ist, würde die wirtschaftliche Rückständigkeit der Region und die Rolle des Imperialismus unmittelbar zu quasi (neo-)kolonialer Abhängigkeit eines solchen Kurdistans führen.
Daher wird kein Weg daran vorbeiführen, die sozialen und ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft anzugehen, wenn Gleichberechtigung und ein Ende der Unterdrückung erreicht werden sollen.
In einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens und Europas, die ein sozialistisches Kurdistan neben einer sozialistischen Türkei umfasst und jeweils volle Minderheitenrechte garantiert, können KurdInnen, TürkInnen und andere gemeinsam jeglicher Unterdrückung den Boden entziehen und die drängenden sozialen Fragen lösen.
Sosyalist Alternatif (CWI in der Türkei) fordert:
- Sofortiges Ende der Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung. Freilassung aller politischen Gefangenen in der Türkei
- Sofortiges Ende des Baus von Militärstationen in der Region
- Volle kulturelle und demokratische Rechte für KurdInnen. Für demokratisch gewählte örtliche und regional vernetzte Komitees zur Organisierung der Selbstbestimmung von unten und zur Durchführung der Wahlen für ein regionales Parlament mit vollen Rechten für alle Parteien außer den Faschisten
- Schluss mit der Diskriminierung von KurdInnen. Vollständig demokratisches Wahlsystem inklusive der Abschaffung der Zehn-Prozent-Hürde in der Türkei. Volle demokratische Rechte inklusive Presse-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit. Volle Rechte für ArbeiterInnen und Gewerkschaften, Schluss mit der Repression gegen Linke und Gewerkschaften
- Volles Recht auf Selbstbestimmung für KurdInnen einschließlich des Rechts auf staatliche Lostrennung
- für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens mit vollen Rechten und Schutz aller Minderheiten, einschließlich des Rechts, einen unabhängigen Staat zu gründen, der dann – auf freiwilliger Basis – Teil der Föderation werden kann
- Schluss mit Ausbeutung, Kapitalismus und imperialistischer Vorherrschaft in der Region. Für einen demokratischen, sozialistischen Plan zur wirtschaftlichen Entwicklung basierend auf der Verstaatlichung der die Wirtschaft beherrschenden Konzerne unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung