Erdogan provoziert Gewalt und Spaltung
Kurz vor den Kommunalwahlen am 30. März führte der Tod des jüngsten Opfers der staatlichen Repression erneut zu massenhaften Unruhen. Die autoritäre und korrupte Regierung versucht sich durch bewusste Spaltungspolitik weiterhin an Macht zu halten.
von Festus Okay, Ankara
Am 11. März verlor Berkin Elvan, das achte Opfer der Polizeigewalt in den Tagen des Gezi-Aufstands, sein Leben. Berkin Elvan wollte Brot fürs Frühstück holen, als er am 16. Juni von einem Pfeffergasgeschoss am Kopf getroffen wurde. Genau 269 Tage rang er um sein Leben, an seinem 15. Geburtstag lag er im Koma. Seine Mörder sind frei.
„Mörder Erdogan“
Als sein Tod bekannt wurde, gab es in Istanbul und Ankara sofort Protestaufrufe für den nächsten Abend. Aber die Menschen begannen schon, sich am Vormittag zu versammeln. Am Nachmittag waren es bereits Tausende. Gleichzeitig boykottierten StudentInnen an vielen Universitäten die Vorlesungen. Mit einer Mischung von Traurigkeit, Wut und Zorn kamen – auch in Izmir, Antalya und Eskisehir – Studierende, SchülerInnen, Beschäftigte, linke Aktive, KurdInnen, Alawiten zusammen und skaniderten: „Der Mörder von Berkin ist die Polizei der AKP“ oder „Mörder Erdogan“. Die Polizei reagierte wieder mit Wasserwerfern und Knüppeleinsätzen.
Am nächsten Tag, den 12. März, wurde Berkin beerdigt. Hunderttausende beteiligten sich an der Trauerfeier in Istanbul. Gleich nach der Beisetzung kam es wieder zu Polizeiterror. Es folgten Straßenschlachten. Viele Menschen wurden verletzt und verhaftet.
Gefährliche Taktik Erdogans
Seit dem Gezi-Aufstand ist nichts mehr wie früher. In vielerlei Hinsicht musste Recep Tayyip Erdogan und seine „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP) Rückschläge einstecken. Sein Ansehen litt unter den wochenlangen Massenprotesten. Dazu kamen die Enthüllungen von gigantischen Korruptionsskandalen, in Folge dessen vier Minister zurücktreten müssten.
Hinter diesen Enthüllungen, die eine Staatkrise auslösten, steht ein unerbittlicher Kampf der AKP mit einem einstigen Bündnispartner, dem Gülen-Netzwerk unter der Führung des Predigers Fetullan Gülen, der in den USA lebt und einen Teil der türkischen Bourgeoisie vertritt. Diese Kräfte konnten im Staatsapparat einzelne Schlüsselposten erobern, insbesondere in Polizei- und Justizwesen. Während sich die Regierung und das Gülen-Netzwerk gegenseitig Schläge versetzen, kommt immer wieder ihr ganzen Dreck ans Tageslicht.
In einem aufgetauchten Tonband findet sich ein Telefonat zwischen Erdogan und seinem Sohn. Das Gespräch ereignete sich am Tag der Polizeirazzia gegen die Ministersöhne; darin mahnt Erdogan seinen Schopf an, private Gelder – Riesensummen – wegzuschaffen.
Während Erdogan mit immer größerer Härte gegen die Proteste vorgeht, greift er gleichzeitig zu Maßnahmen, durch die er mehr und mehr Macht in seinen Händen konzentriert. Durch neue Gesetze brachte er die Justiz weitgehend unter Kontrolle. Gegen die Generäle und Mitglieder der türkischen Geheimdienstorganisation MIT lassen sich ohne seine Erlaubnis keine Ermittlungen anstellen.
Machtkämpfe
Die langjährigen Lagerbildungen der Herrschenden sind aufgebrochen. Neue Blöcke bilden sich. So stellten AKP und das Gülen-Netzwerk mit Unternehmensverbänden wie MÜSIAD und TUSKON jahrelang eine gemeinsame Front. Die kemalistische Opposition, die Republikanische Volkspartei (CHP), waren zusammen mit dem Militär und dem alten traditionellen Kapitalverband TÜSIAD die wichtigsten Kontrahenten von Erdogan und Co. Der Block um die AKP und Gülen bekam bis 2010 Unterstützung aus dem Spektrum linksliberaler Intellektueller und Gegnern des Militärs. In diesem Zusammenhang wurden viele, darunter auch Ex-Generalstäbe, im Rahmen der sogenannten Ergenekon-Prozesse verhaftet und im letzten Sommer mit lebenslangen Haftstrafen bedacht.
Während die Massenbewegung sich immer stärker radikalisiert, hat sich das Gülen-Netzwerk mit der CHP zusammen getan. Vor diesem Hintergrund zeigt sich Erdogan bereit, mit dem Teufel selber zu paktieren – und ließ viele, an deren Händen das Blut von Kurden und Linken klebt, frei.
Perspektiven
Eins ist sicher: Die Frage ist nicht, ob sondern wie wird Erdogan gehen. Es gibt bereit eine Staatskrise. Die Regierung versucht durch Zensur und erhöhte Repression ihre Macht aufrechthalten. Sie bereitet sich für eine große Offensive sowohl gegen die Bewegung als auch gegen die andere Fraktion der Bourgeoisie vor.
Trotzdem genießt Erdogan immer noch die Unterstützung breiter Schichten – nicht zuletzt wegen der relativen Stabilität der Wirtschaft. Höchstwahrscheinlich wird es vorgezogene Neuwahlen geben. Das könnte dazu führen, dass manche „abwarten“ wollen und die Lage so ein bisschen beruhigen.
Seit einem Jahr gibt es in den kurdischen Gebieten keine bewaffneten Auseinandersetzungen. Das hat enorm positive Auswirkungen auf die Massenproteste gehabt. Bis jetzt hat die Regierung nichts für die Rechte der Kurden unternommen. Es ist aber zu erwarten, dass die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) trotzdem nicht wieder zu den Waffen greift, sondern auf eine Massenbewegung in Kurdistan setzt.
Die Linke kämpft in der Bewegung an vorderster Front. Aber auf der politischen Ebene bietet sie bisher keine Alternative. Es ist indes möglich, dass sich hier nach den Wahlen am 30. März was tut.