Vorbemerkung
2015 wurden in Deutschland nach Angaben des Bundeskriminalamts 924 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte verzeichnet. Bis zum 28. November 2015 soll es demnach zu 1610 rechtsmotivierten Delikten im Zusammenhang mit der „Unterbringung von Asylbewerbern“ gegeben haben.
Ganz abgesehen davon fliehen Menschen vor Krieg und Armut in ein krisengeschütteltes Europa. Was ist es, dass sie forttreibt aus ihren Heimatländern? Was suchen sie in einem Europa, das man weltweit als Opfer der Weltwirtschaftskrise kennt?
Die immer größer werdende Flüchtlingswelle zum Anlass nehmend möchten wir einen Einblick geben, mit welchen Problemen die Menschen zu tun haben, die in der sogenannten „Dritten Welt“ leben und arbeiten.
Dazu drucken wir im Folgenden die Übersetzung eines Artikels der „Education Rights Campaign“ (dt.: „Kampagne für das Recht auf Bildung“) aus Nigeria ab, in dem der Zustand der Bildungslandschaft dort skizziert wird.
Haushalt 2016: Bildungssektor in Nigeria bleibt unterfinanziert!
von Omole Ibukun, Geschäftsführer der „Education Rights Campaign“ (ERC), „Obafemi Awolowo University“ (OAU) in Ile-Ife.
Auch wenn einige Studentenführer über das Radio verkünden, man müsse bejubeln, wie hoch der Anteil am Haushalt ist, der für den Bildungssektor vorgesehen ist, so liegt dieser Anteil immer noch unter dem von 2012, 2013, 2014 und 2015. Diese früheren Haushalte standen genauso wenig in einem angemessenen Verhältnis zu dem, was der Bildungsbereich in jenen Jahren eigentlich gebraucht hätte. In keinem dieser Haushalte waren mehr als elf Prozent für die Bildung vorgesehen. Demgegenüber steht die Empfehlung der „United Nations Education, Social and Cultural Organization“ (UNESCO) für die Entwicklungsländer, die demnach 26 Prozent ihres Budgets in diesen Bereich investieren sollten. Entsprechenden Berichten zufolge halten sich Länder wie die Elfenbeinküste oder der Senegal an diese Empfehlung und gehen sogar noch darüber hinaus. Es ist einfach eine Schande, dass das bevölkerungsreichste Land, die größte Volkswirtschaft und der größte Rohöl-Exporteur auf dem afrikanischen Kontinent diesen Wert immer noch nicht erreicht hat.
Von 306,3 Mrd. Naira (~ 1,4 Mrd. Euro) im Jahr 2011, über 400,15 Mrd. Naira (~ 1,85 Mrd. Euro) 2012, 426,53 Mrd. Naira (~ 1,9 Mrd. Euro) 2013, 493 Mrd. Naira (~ 2,3 Mrd. Euro) 2014, 492 Mrd. Naira (~ 2,4 Mrd. Euro) 2015 zu jetzt 369 Mrd. Naira (~ 1,7 Mrd. Euro) in diesem Jahr bleibt der wichtigste Sektor des Landes Nigeria weiterhin unterfinanziert. Auch wenn dieser Haushalt allein für die Bundesebene gilt, so reicht dieser immer noch nicht aus, um die grundlegende Entwicklung zu ermöglichen, die in diesem Bereich so dringend nötig ist. Wir befinden uns an einem entscheidenden Punkt in unserer Geschichte, denn die Zuwendungen für den Bildungsbereich verharren – was die Gesamtsumme angeht – auf dem niedrigsten Wert seit 2011.
In den Jahren zwischen 2011 und 2015 ist zwar mehr Geld in den Bildungssektor geflossen als 2016, gleichzeitig kam es aber an fast allen Hochschulen in Nigeria zur Anhebung der Studiengebühren. Der darauffolgende Widerstand der Studierenden gegen diese Gebührensteigerungen führte dazu, dass der Betrieb an einigen Einrichtungen zum Erliegen kam. Vor allem das Jahr 2013 steht für den Streik der ASUU (Gewerkschaft der Hochschulbeschäftigten), der sechs Monate lang andauerte. Gefordert wurde damals eine bessere Finanzierung der Universitäten und die Auszahlung der einbehaltenen Sonderzahlungen, die sie sich verdient haben und die ihnen zustehen. Trotz der relativ besseren finanziellen Ausstattung in diesen Jahren, haben wir es bei den Laboren in unseren Hochschulen weiterhin mit leeren Räumen zu tun, immer noch fehlen die nötigen Wohnheime und Lesesäle. Die Lebensbedingungen der Studierenden sind weiterhin als jämmerlich zu bezeichnen und dasselbe gilt für die Sicherheitsstandards sowie die Gesundheitsversorgung der HochschülerInnen. Fakt ist, dass allein zwischen Mai und September 2015 mindestens vier Studierende im Grundstudium ums Leben gekommen sind, was auf die mangelnde technische Ausstattung und die Müdigkeit des medizinischen Personals aufgrund von Überarbeitung zurückzuführen ist.
Angesichts einer Zahl von über zehn Millionen Kindern und Jugendlichen, die nicht zur Schule gehen, muss Nigeria diesen Haushaltsposten auf 40 Universitäten des Bundes, 21 Fachhochschulen des Bundes, 22 pädagogische Hochschulen des Bundes und 104 Einheitsschulen ausweiten. Insgesamt geht es somit um 187 Einrichtungen. Man könnte sofort auf die Frage kommen, wie lange es braucht, bis das gesamte Bildungssystem diese Veränderung zu spüren bekommen wird.
Gleichzeitig will die Bundesregierung mit Haushaltsmitteln 500.000 AbsolventInnen als LehrerInnen einstellen. Auch wenn diese Initiative tatsächlich ernstgemeint sein sollte, so kann sie aufgrund der alarmierenden Lehrer-Schüler-Relation im Land alles andere als bejubelt werden. Fakt ist, dass die „Education Rights Campaign“ (ERC), die „Nigeria Union of Teachers“ (NUT) und viele weitere Organisationen nun schon seit einiger Zeit dazu aufrufen, radikale Maßnahmen zu ergreifen, um den Personalmangel an den Grundschulen und in der Sekundarstufe zu beheben. Sieht man sich aber an, mit welchen Formulierungen diese Initiative arbeitet und bezieht man dann noch mit ein, dass auch die Regierung von Buhari durch und durch kapitalistischen Charakter hat, so wirft selbst dieser politische Vorschlag mehr Fragen auf als dass er Antworten gibt. Ein Beispiel: Angesichts der mangelhaften Ausstattung in den Klassenräumen, Laboratorien, Bibliotheken und selbst in den Lehrerzimmern öffentlicher Grund- und Sekundarschulen überall im Land muss man sich fragen, welche Pläne die Regierung genau hat, um alle nötigen Einrichtungsmittel zur Verfügung zu stellen, die diese 500.000 neuen LehrerInnen für ihre Arbeit brauchen. Zweitens: Sollen die neuen KollegInnen dauerhaft eingestellt werden und den Regularien unterliegen, die im öffentlichen Dienst gelten? Oder soll es nach dem Modell der Sklavenarbeit laufen, wie sie in den von der APC regierten Bundesstaaten Osun und Oyo zum Normalzustand zu werden scheint? Dort werden HochschulabsolventInnen zur Ableistung minderwertiger Aufgaben gedrängt, wofür sie einen Hungerlohn erhalten.
Die letzte Regierung hat die Ineffizienz und die unerklärlichen Kosten im Bildungssektor noch mit dem Phänomen der Korruption erklären wollen, um auf diese Weise von der permanenten Unterfinanzierung ablenken zu wollen. Demgegenüber hat es die aktuelle Regierung auch nach nunmehr sieben Monaten im Amt immer noch nicht vermocht, Verfahren auch nur gegen einen einzigen korrupten Vertreter der Universitäten zu eröffnen, geschweige denn einen von ihnen zu verurteilen. All dies geschieht in einer Situation, in der Studierende (z.B. an der „Obafemi Awolowo University“ [OAU] in der Kulturstadt Ile-Ife) Untersuchungen gegen die Vizekanzler der Hochschulen einfordern.
Noch empörender ist, dass die aktuelle Regierung und ihre Vertreter bei jeder sich ihnen bietenden Gelegenheit in den Chor des IGR (Interne Finanzverwaltung) mit einstimmen. Damit versuchen sie, die Stimmen der Studierenden in Nigeria ins Leere laufen zu lassen, die kostenlose Bildung wollen. Der Hintergrund, vor dem dies alles vor sich geht, besteht aus exorbitanten Studiengebühren. Für Kinder aus armen oder Arbeiterhaushalten ist Bildung geradezu ein Fremdwort. So verlangt beispielsweise die „University of Lagos“ (Nigerias zweitbeste) von den ErstsemesterInnen mehr als 55.000 nigerianische Naira (~ 250 Euro) und die OAU erhebt beinahe 100.000 Naira. Und das in einem Land, in dem der Mindestlohn von 18.000 Naira (~ 83 Euro) durch nicht ausbezahlte Löhne, halb ausbezahlte Löhne sowie die Bedrohung ausgehöhlt wird, noch weiter abgesenkt zu werden. Diese Gebührenordnungen, die die Grundlage der IGR sind, haben über die Jahre zu keinerlei Verbesserung der Bildungsstandards geführt. Deshalb weisen selbst so wichtige Hochschulen wie die UNIABUJA (in der Bundeshauptstadt; Erg. d. Übers.) weiterhin erhebliche Mängel hinsichtlich der Qualität der dort vermittelten Bildung auf. Tatsächlich hat diese Hochschule, die vor einigen Jahren die Aberkennung eines Lehrgangs für IngenieurInnen hinnehmen musste, die Zulassung ihrer Jura-Fakultät blockiert. Begründet wird dies mit Bedenken bezüglich der Anforderungen durch die Jura-Richtlinien.
Die logische Folge davon ist, dass diese rückwärts gerichtete Politik dazu führt, dass Nigerias beste Universität im Ranking der afrikanischen Hochschulen auf einem der hinteren Plätze landet. Vom Weltmaßstab wollen wir an dieser Stelle gar nicht erst sprechen. Die beste Universität in Afrika, die „University of Cape Town“, befindet sich in Südafrika. Das ist ein Land, das vier seiner Universitäten unter den besten fünf des gesamten Kontinents weiß. Sieben der südafrikanischen Universitäten gehören zu den zehn besten Afrikas. Die anderen drei Plätze gehen an ägyptische Hochschulen. Doch so bahnbrechend die Statistiken, die uns aus Südafrika erreichen, auch klingen mögen – die Regierung dort musste vor kurzem ihre Pläne, die Studiengebühren zu erhöhen, wieder zurücknehmen, weil weil die Studierenden auf die Straße gegangen sind und die Kampagne #FEEMUSTFALL ins Leben gerufen haben. Ihre Forderungen haben auch die Frage der Lebensbedingungen und der Verbesserung der Qualität von Bildung mit einbezogen. Und das, obwohl die Regierung dort laut UNESCO-Richtlinien die 26 Prozent, die aus dem Haushalt für Bildung ausgegeben werden sollen, eingehalten hat.
Die Hochschulen Nigerias hinken hinterher
Dies ist ein Beleg dafür, dass Nigerias Ziel über das Beispiel Südafrikas hinausgehen muss, wenn wir wirklich etwas ändern wollen. Mehr noch: Selbst wenn Nigeria in der Lage wäre, 26 Prozent seiner Haushaltsmittel für die Bildung aufzuwenden, zeigt das Beispiel Südafrikas auch, dass dies auf der Grundlage des Kapitalismus und mit den vorwiegend undemokratisch geleiteten Schulen nicht automatisch zu grundlegender Verbesserung der Qualität oder Sicherstellung bezahlbarer Bildung führen würde. Aus diesem Grund fordert die „Education Rights Campaign“ (ERC) die Bereitstellung einer kostenlosen und funktionsfähigen Bildungslandschaft sowie demokratisch geführte Schulen und akademische Institutionen unter der Verwaltung gewählter VertreterInnen der SchülerInnen, Studierenden und des Lehrpersonals. Auf dieser Basis sind die AktivistInnen der ERC an Kampagnen und Kämpfen für den Aufbau einer sozialistischen Alternative zum Kapitalismus beteiligt.
Mit dem Ziel, die Wirtschaft wiederzubeleben, muss Nigeria den Bildungssektor finanzieren, um das menschliche Kapital zu haben, mit dem anderen Teile der Wirtschaft entwickelt werden können. Wie kann Nigeria bis 2020 zu einer der stärksten 20 Volkswirtschaften werden, wenn die beste Uni des Landes im fünften Jahr in Folge auf Rang 25. in Afrika und auf Platz 2004 weltweit rangiert? (Quelle: „Webometrics statistics“, Jan. 2016). Bildung muss kostenlos zur Verfügung stehen, für alle Menschen zugänglich sein und die entsprechende Qualität aufweisen, um die Wirtschaft auferstehen lassen zu können. Will Nigeria das ökonomische Chaos überwinden, so sind in der Energiebranche, in der Produktion, im Bereich des Informations- und Kommunikationstechnologie usw. geschulte Hände nötig. Doch auf der Grundlage des Kapitalismus wird es unmöglich sein, dieses Ziel jemals zu erreichen.
Die Lösung für das Massen-Problem Analphabetismus in Nigeria besteht nicht darin, den marktwirtschaftlichen Ansatz zu gehen. Dieser Weg ist der einzige, den die kapitalistischen und neoliberalen Politiker anzubieten haben. Durch Privatisierungen und die weitere Kommerzialisierung des Bildungsbereichs wird sich die Lage jedoch nicht verbessern. Dazu bedarf es einer Politik, die für ein kostenloses, qualitativ hochwertiges und funktionierendes öffentliches Bildungswesen auf allen Ebenen sorgt. Für eine solche Politik ist allerdings eine Regierung der ArbeiterInnen und der Gesamtbevölkerung nötig, die die Wirtschaft in öffentliches Eigentum überführt und unter demokratische Verwaltung stellt. Eine solche Regierung müsste eine Politik vertreten, nach der die Rechte der Studierenden und des Lehrpersonals, unabhängige demokratische Gewerkschaften zu bilden, gewährleistet sind. Darüber hinaus müssen die Angelegenheiten der Bildungseinrichtungen von gewählten VertreterInnen aller Beschäftigten- und Lerngruppen, die an der jeweiligen Einrichtung vertreten sind, geregelt werden.
Die Studierenden in Nigeria dürfen nicht zulassen, dass die Forderungen von den Bürokraten der Studierendengewerkschaft und der „National Association of Nigerian Students“ (NANS) bestimmt werden. Diese Bürokraten bürokratisieren die Gewerkschaften, obwohl sie doch eigentlich demokratisch sein sollten. Schlimmer noch: Diese Bürokraten nutzen ihre Büros als Einrichtungen, um Lobbyarbeit und Propaganda für unsoziale Politiker zu betreiben. Als Gegenleistung erhalten sie dafür Geld. Die Studierenden und AktivistInnen müssen sich die NANS zurückerobern und außerdem unabhängige Plattformen aufbauen, mit denen sie ihre Interessen verteidigen und auch ihre Gewerkschaften demokratisieren können. Die Gewerkschaften dürfen nicht länger unter dem Einfluss der Zuträger der etablierten Politik stehen. Geschehen muss dies, um die Gewerkschaften als Plattform zu nutzen, um die herum die Kampagne gegen die Kommerzialisierung aufgebaut werden kann, mit der für angemessene Finanzierung und demokratische Kontrolle über das Bildungswesen gekämpft wird. Nur so kann die Beeinflussung durch politische Amtsträger, die Verwaltung der Institutionen und religiöse Gruppen beendet werden. Nur so kann die Unabhängigkeit und Stärke der Studierendengewerkschaften gesichert werden.