Interview mit Ismail Okay (Sosyalist Alternatif) zur Lage nach dem Putschversuch
Der Putschversuch kam für viele überraschend. Wie kam es dazu und wie sollten sich Linke dazu verhalten?
Erdoğan versucht seit Jahren mit allen Mitteln seine Macht zu festigen. Proteste wie „Gezi“ wurden immer wieder brutal niedergeschlagen. Viele Menschen kamen ums Leben. Nach den Korruptionsskandalen im Dezember 2014 wurde die „Gülen Bewegung“, die einst Bündnispartner Erdoğans war, als terroristisch bezeichnet. Tausende Polizisten, Geheimdienstler und Richter wurden verhaftet. Auch in der Armee war eine große Säuberung geplant.
Gleichzeitig setzt Erdoğan auf eine Politik die auf Chaos, Angst, Terror und Massakern basiert. In Bezug auf Kurdistan wurde der Waffenstillstand beendet und in Folge dessen, viele kurdische Städte zerstört.
Diese nationalistisch geprägte harte Taktik ist im letzten Jahr aufgegangen und die AKP ist wiedergewählt worden. Allerdings hatte sie nicht genügend Sitze im Parlament, um eine neue Verfassung nach Erdoğans Geschmack durchzubringen.
Dennoch befindet sich das parlamentarische System nach den Wahlen im Juni letzten Jahres in der Krise. Bei den ersten Wahlen hat die AKP nicht genügend Stimmen zusammenbekommen, um allein eine Regierung zu bilden. Die anderen drei im Parlament vertretenen Parteien lehnten eine Zusammenarbeit ab.
AKP und Erdoğan haben seitdem allmählich an Unterstützung verloren. Mehr und mehr haben Leute den Eindruck gewonnen, dass Erdoğan nicht mehr für Stabilität steht, sondern für mehr Chaos in der Gesellschaft.
Unter diesen Bedingungen war schon zu spüren, dass ein Putsch möglich ist. Ein nicht ganz kleiner Teil der Bevölkerung setzte sogar darauf, da sie sich keine Lösung der Situation von den etablierten Parteien erwarteten.
Aber ein Umsturz der Regierung durch eine kleine Gruppe von Soldaten ist auch keine Lösung. Ein erfolgreicher Militärputsch hätte die Lage der Arbeiterklasse nicht verbessert, ganz im Gegenteil. Auch das Militär wäre, wie bereits zuvor, gegen kämpfende ArbeiterInnen vorgegangen.
Als SozialistInnen und GewerkschafterInnen haben wir uns daher klar gegen den Putsch ausgesprochen. Gleichzeitig haben wir aber klargemacht, dass das Erdoğan-Regime keinerlei Unterstützung von uns bekommt.
Nach dem Putsch versucht Erdoğan seine Macht zu stärken. Welche Maßnahmen hat er ergriffen und wie schätzt du die Lage ein?
Erdoğan will die aktuelle Lage zum Ausbau seiner Macht nutzen. Es hat eine deutliche Zunahme von Mobilisierungen der AKP gegeben. Das wird massiv von staatlicher Seite unterstützt. So ist zum Beispiel in vielen AKP-geführten Städten der öffentliche Nahverkehr seit dem 15. Juli kostenlos, damit mit mehr Menschen an diesen Kundgebungen teilnehmen.
Der Ausnahmezustand wird genutzt, um freie Hand für weitere Maßnahmen zu haben. Die Säuberung des Staatsapparats, die bereits seit Jahren läuft, wird nun beschleunigt. Zehntausende von BeamtInnen wurden nun suspendiert.
Unmittelbar ist die Position von Erdoğan und der AKP gestärkt. Doch dies wird nicht von Dauer sein, denn die eigentlichen sozialen und wirtschaftlichen Probleme sind nicht gelöst. Die politische Krise ist nicht vorbei, sondern hat eine neue Stufe erreicht.
Welche Aufgaben stellen sich für die Linke in der Türkei und Deutschland?
Die Linke muss in die Offensive gehen. Erdoğan stellt sich jetzt als „Demokrat“ dar. Man sollte diese Situation nutzen, um Demonstrationen und Kundgebungen gegen dem Putsch aber auch gegen die Politik von Erdoğan zu organisieren. In gewisser Weise ist die aktuelle Lage sogar günstiger als in den letzten zehn oder zwanzig Jahren.
Die pro-kapitalistischen konservativen Islamisten wie Erdoğan und Co haben sich bisher als Opfer des kemalistischen Regimes dargestellt. Mit der veränderten Lage funktioniert dies nicht mehr und das eröffnet neue Möglichkeiten für die Linke.
Eine Massenpartei mit einem klaren sozialistischen Programm könnte diese nutzen, um gegen das Erdoğan-Regime und das kapitalistische System zu mobilisieren.