Filmbesprechung zu „I am not your Negro“
„Ich kann kein Pessimist sein, weil ich lebe. Pessimist zu sein bedeutet, dass man zugestimmt hat, das menschliche Leben als rein akademische Angelegenheit zu betrachten. Deshalb sehe ich mich gezwungen, ein Optimist zu sein. Ich bin gezwungen davon auszugehen, dass wir überleben können, was immer es zu überleben gilt.“ (James Baldwin, Schriftsteller, der die Grundlage für das Filmdrehbuch lieferte)
von Ryan Watson, „Socialist Alternative“ (Schwesterorganisation der SAV in den USA), Chicago
Wie so viele Persönlichkeiten, die um die letzte Jahrtausende herum gelebt und gewirkt haben, ist mir auch James Baldwin zunächst vollkommen unbekannt gewesen. Damals ging ich noch zur High School oder war gerade aufs College gewechselt. Als ich Baldwin entdeckte, wurde mir mit seinem ersten Roman, den ich las, klar, dass er ein ganz herausragender Schriftsteller ist. Es ging um die Werke „Go Tell It On The Mountain“ und „The Fire Next Time“, dauerte jedoch, bis ich auf „YouTube“ Filme sah wie die Debatte zwischen Baldwin und William F. Buckley, in der es um die Frage geht, „ob der American Dream auf Kosten des American Negro“ gelebt wird. Ab diesem Zeitpunkt, da ich James Baldwin auch auf „facebook“ und „twitter“ erleben konnte, übte er einen intensiven Einfluss auf mich aus. In der heutigen Zeit, in der etwa die neue Bürgerrechtsbewegung „Black Lives Matter“ entstanden ist, sind seine Aussagen von vor 50 Jahren offenbar genauso relevant wie damals.
Der Kinostart des für den Oscar nominierten Dokumentarfilms „I Am Not Your Negro“ (dt.: „Ich bin nicht dein Sklave“) des in Haiti geborenen Regisseurs Raoul Peck mit Samuel L. Jackson als Erzähler ist bahnbrechend und sehr beeindruckend. Zu Pecks filmischen Werken zählen Streifen wie „Lumumba“, eine biografische Darstellung des Staatsstreichs, den die USA und Belgien im Kongo durchgeführt und am Ende den ersten demokratisch gewählten Premierminister des Landes, Patrice Lumumba, haben ermorden lassen. Diesen Sommer wird Pecks nächster Film mit dem Titel „Der junge Karl Marx“ in die US-amerikanischen Kinos kommen.
„I Am Not Your Negro“ basiert auf einem unvollendeten Manuskript von James Baldwin aus dem Jahr 1979, das den Titel „Remember This House“ trägt und von Baldwins Freundschaft zu so berühmten Persönlichkeiten wie Medgar Evers, Malcolm X und Dr. Martin Luther King sowie dem politischen Einfluss erzählt, den sie auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung ausgeübt haben. Alle drei dieser Schlüsselfiguren der damaligen Zeit sind ermordet worden. Raoul Peck besitzt die umfassenden Lizenzrechte und hatte freien Zugang zu Baldwins Nachlass. Dass der Filmemacher auf das gesamte Material zurückgreifen konnte, belegt der Dokumentarfilm in seiner vollen Länge.
Ein Sohn Harlems
Baldwin wurde am 2. August 1924 in Harlem, New York, geboren und ist dort auch aufgewachsen. Er entstammte einer harten Realität aus Armut, Rassismus und elterlicher Strenge vor allem von Seiten seines Stiefvaters.
„I Am Not Your Negro“ stellt in atemberaubender Weise die Beziehung Baldwins, die er zu einem/r seiner LehrerInnen hatte, in den Vordergrund. James Baldwin, ein Kind des öffentlichen Schulsystems von New York City, zeigte schon früh, wie viel Neugier in ihm steckt und dass er die Dinge verstehen wollte. Er weckte damit das Interesse seiner Lehrerin, einer jungen „weißen“ Frau namens Orilla Miller. Miller, die vom jungen Baldwin den Spitznamen „Bill“ erhielt, sollte grundlegenden Einfluss auf sein weiteres Leben haben. Sie führte Regie bei seinem ersten Theaterstück und förderte sein Talent. Die beiden diskutierten über Literatur und sahen sich gemeinsam Ausstellungen in Museen an. Miller ging sogar so weit, David Baldwin um Erlaubnis zu bitten, seinen damals minderjährigen Sohn James mit ins Theater nehmen zu dürfen, was zuvor verboten war. Später sollte Baldwin es ihr hoch anrechnen, dass sie ihm stets ohne rassistische Vorurteile begegnet ist. Er erklärte, dass es „vor allem auch auf sie, die sie vergleichsweise früh in mein ansonsten schreckliches Leben trat, zurückzuführen ist, dass ich es nie wirklich vermocht habe, Hass gegenüber hellhäutigen Menschen zu empfinden“.
Als Kinobesucher habe ich sowohl bei Baldwin als auch bei „Bill“ eine tiefgehende Geschichte wahrgenommen. So beschreibt er sie an einer Stelle wie folgt: „Bill Miller war weiß“, aber sie war „für mich nicht auf dieselbe Weise weiß wie zum Beispiel eine Joan Crawford“ (berühmte Schauspielerin der damaligen Zeit; Anm. d. Übers.). Auch, so führt er weiter aus, war sie nicht in dem Sinne „weiß“ für mich „wie die Vermieter und die Ladenbesitzer und die Polizisten und die meisten meiner Lehrer, die weiß waren. Auch sie […] ist wie ein Nigger behandelt worden; vor allem von den Cops. Und für die Hausbesitzer hatte sie rein gar nichts übrig“. Baldwin lernte von ihr, dass „weiße Menschen nicht so handeln, weil sie weiß sind“.
Obwohl es den Anschein machte, dass all die Menschen, die einem Probleme machten, „weiß“ waren, ging Baldwin nicht davon aus, dass umgekehrt alle „Weißen“ in der amerikanischen Gesellschaft Probleme machen. Seine herausragende sprachliche Begabung hat sich in den drei bis vier Jahren ausgebildet, die er als Prediger in der Kirchenkanzel verbracht hat. Baldwin hat der Kirche schließlich den Rücken gekehrt, weil er dies als Form der Befreiung aus der gewalttätigen Beziehung zu seinem Stiefvater betrachtete und weil er begann, die christliche Lehre in Frage zu stellen. Dieses Problem durchzieht seine Schriften ebenso wie seine Gesellschaftskritik gegenüber amerikanischem Kapitalismus und Rassismus.
Baldwin als Zeitzeuge
Der Dokumentarfilm arbeitet mit Bildern, zitiert die Arbeiten von Medgar Evers, Malcolm X sowie Dr. Martin Luther King und bedient sich dabei der poetischen Ausdrucksweise von Baldwin, der den Dreien positiv gegenüber stand. Der Effekt, den dieser Ansatz hat, ist abschreckend. Darüber hinaus zeichnet der Film auch die Rückkehr Baldwins aus Frankreich in die USA nach, zu der es kommt, da die Bürgerrechtsbewegung gerade im Entstehen begriffen ist.
Es ist natürlich einfach anzunehmen, dass die drei ermordeten Medgar Evers, Malcolm X und Dr. Martin Luther King auf andere Weise am Kampf beteiligt waren als James Baldwin selbst. Meiner Meinung nach dient der Film dazu, Baldwins Beitrag bewusst von dem der drei Ermordeten abzugrenzen. Das würde Baldwin sicher ähnlich sehen, der sich selbst als Zeuge und nicht als Mitwirkender beschreibt. Natürlich musste Baldwin als Homosexueller und „Schwarzer“ in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts einen dramatischen Kampf für Akzeptanz und Anerkennung führen. Schließlich bewegte er sich auch noch in einer stark hierarchischen, vor „Männlichkeit“ nur so strotzenden und an der Kirche angelehnten dunkelhäutigen Emanzipationsbewegung.
Am Anfang, als der Film im „tiefen Süden“ der USA beginnt, bedient sich Samuel L. Jackson, der als Sprecher dieser Dokumentation fungiert, mit ergreifender Melancholie der Worte Baldwins. Zu Beginn wird der tapfere Kampf gegen Lynchmorde und die Rassentrennung im Bundesstaat Mississippi dargestellt. Medgar Evers, führender Aktivist der NAACP („Bundesweite Organisation zur Förderung dunkelhäutiger Menschen“), war eine Schlüsselfigur der Bewegung, die in den Südstaaten den Kampf gegen die Rassentrennung führte [auf juristischer Ebene war die Rassentrennung in Form der sogenannten „Jim Crow-Gesetze“ bis in die 1960er Jahre in Kraft; Erg. d. Übers.]. Evers war einer der ersten von Baldwins Freunden, die durch Rassisten umgebracht worden sind. Als er gerade nach Hause gekommen war, schoss man ihm auf seiner Auffahrt vor den Augen seiner Frau und Kinder in den Rücken.
Die bekannteren „black freedom“-Kämpfer, Malcolm X und Dr. King, die aus ganz unterschiedlichen Denkrichtungen kamen und verschiedene Aktionsformen propagierten, stehen ebenfalls im Fokus der Betrachtung. Der Film zeichnet die Unterschiede zwischen Malcolm X und Dr. King wie auch die Entwicklung hin zu einer sehr ähnlichen Herangehensweise der beiden nach. Am Ende entschieden sie sich kaum noch voneinander. Obwohl Baldwins Leben nicht – wie das seiner drei Freunde und Protagonisten des Films – gewaltsam beendet worden ist, bestand sein Ziel in den Folgejahren immer darin, die Perspektiven und Ideen von Martin Luther King und Malcolm X nach deren Ermordung für eine neue Generation von AktivistInnen zugänglich zu machen. Er erklärte zwar, wie sehr er King schätzte, sagte aber, dass die Menschen ihm irgendwann nicht mehr zuhören wollten. Er verstand, dass Malcolm X für junge dunkelhäutige Leute interessanter war, weil er die Realität beschrieb, in der sie lebten, und weil er sie in ihrer Realität ernst nahm. Baldwin sprach in höchsten Tönen über Malcolm X, weil dieser die verarmten Schichten ebenso wenig vergaß wie die Menschen, die als Reinigungskräfte arbeiteten oder gar im Knast saßen. Baldwin schloss sich der „Nation of Islam“ (NOI) deshalb nicht an, weil er keinen Hass auf „weiße“ Menschen verspürte und weil er weder mit Elijah Muhammad, dem Leiter der NOI, noch mit dessen „schwarzer“ amerikanischer Version des Islam übereinstimmte. Baldwin wurde auch nicht Mitglied der „Black Panthers“ oder der „Gay Liberation movement“, weil er sich in keine Schublade stecken lassen und sich keinem organisatorischen oder ideologischen Konzept unterordnen wollte. Baldwin war ein unabhängiger Kopf und Ideengeber.
Der Kampf geht weiter
„Ich bin nicht nur geboren worden, um kein Sklave zu sein: Ich wurde genauso wenig geboren, um zu hoffen, so zu werden wie der Sklavenhalter.“ (James Baldwin)
Die Doku leistet einen ganz hervorragenden Beitrag, wenn es darum geht, den Kampf der 1960er Jahre mit den Bedingungen in Zusammenhang zu bringen, denen dunkelhäutige ArbeiterInnen und junge Leute im heutigen Kapitalismus und Rassismus ausgesetzt sind. Der Dokumentarfilm glänzt durch Baldwins einfühlsame Gedanken über Themen wie Rasse, das Weiß-Sein und die Macht. Seine Ideen dazu werden im Film aufgegriffen. Es wird aber auch gezeigt, welchen Wert diese Debatten für heute haben. Heute, in einer Zeit, da die meisten Nachrichtenredaktionen von fünf großen Konzernen kontrolliert werden, hat das Establishment gelernt, dass es niemals wieder solchen Persönlichkeiten wie Malcolm X oder Martin Luther King oder auch nur einem James Baldwin eine derartige Plattform bieten darf, von der aus sie die Menschen erreichen können. Allerdings haben die von Konzernen kontrollierten Medien auch an Macht eingebüßt, da es zur Entstehung neuer und alternativer Nachrichtenkanälen gekommen ist.
Vergleichbar mit der Videosequenz auf „youtube“, in der es um die Frage geht, „ob der American dream auf Kosten des American Negro“ gelebt wird, fragt auch der Film von Raoul Peck danach, weshalb Amerika die „negroes“ braucht. Baldwin geht auf diese Frage ein:
„Festzustellen, dass die Fahne, der man mit all den anderen zusammen Treue geschworen hat, einem selbst keine Treue schwört, mag einem wie ein schwerer Schock vorkommen. Es mag einem wie ein schwerer Schock vorkommen, wenn man mit fünf oder sechs Jahren noch Gary Cooper zujubelt, wie er die Indianer abschlachtet, und feststellt, dass man selbst zu den Indianern gehört. Es ist wie ein schwerer Schock festzustellen, dass das Land, in dem du geboren bist und dem du dein Leben und deine Identität verdankst, in seiner gesamten realen Systematik gar keinen Platz für dich vorgesehen hat.“
Die jungen Leute aus Ferguson sind in einem Städtchen auf die Barrikaden gegangen, dessen mehrheitlich dunkelhäutigen EinwohnerInnen aus der Arbeiterschaft von einem Polizeistaat und einer Politik behandelt und kriminalisiert worden sind, dass man sich an die „Jim Crow-Gesetze“ von damals erinnert fühlt. Baldwin hat diesen Punkt schon im Jahre 1963 aufgegriffen: „Ich bin sicher, dass sie ausnahmslos nichts gegen Negroes haben. Aber dass ist tatsächlich nicht der Punkt, verstehen Sie?“. In einem anderen Fernsehinterview geht er abermals darauf ein: „Die Frage ist wirklich eine Form von Apathie und Ignoranz, was der Preis ist, den wir für die Rassentrennung bezahlt haben. Genau das ist Rassentrennung: Man weiß nicht, was auf der anderen Seite der Mauer geschieht, weil man es nicht wissen will“. Ferguson, Baltimore, Tulsa und das Entstehen der Bewegung „Black Lives Matter“ haben gezeigt, dass sich das unterdrückende System und somit die Realität der dunkelhäutigen ArbeiterInnen und jungen Leute auch nach 50 Jahren immer noch nicht zum Besseren geändert haben.
Weshalb „I Am Not Your Negro“ wichtig ist
Am 1. Dezember dieses Jahres jährt sich der Todestag von James Baldwin zum 30. Mal. Die Dokumentation „I Am Not Your Negro“ kann mit Fug und Recht als angemessene Würdigung und Anerkennung des Beitrags bezeichnet werden, den Baldwin für den Kampf zur Beendigung von Ausbeutung, institutionalisiertem Rassismus und der Konzernherrschaft über unser Leben geleistet hat. Der Film ermöglicht einer neuen Generation den Einstieg in Baldwins reichhaltige Wortwelt, Erkenntnisse und Sprache. Beim Aufbau einer multi-ethnischen Bewegung der Arbeiterklasse, die den Krieg von Trump und der „Wall Street“ stoppen will, der gegen die arbeitenden Menschen, die verarmten Schichten und „people of color“ geführt wird, kann das nur hilfreich sein.