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An der Charité laufen derzeit Verhandlungen zwischen ver.di und Arbeitgeber über einen verbesserten Tarifvertrag Gesundheitsschutz, der 2015 in einem Streik erkämpft wurde, sich aber in der Folge als nicht ausreichend verbindlich darstellte. Was geschah bisher und wie geht es jetzt weiter?
von Stephan Gummert, Mitglied der Streikleitung von ver.di Charité*
2015 schrieben die Beschäftigten der Charité Tarifgeschichte, weil sie den ersten Tarifvertrag zu Mindestbesetzungen und Gesundheitsschutz erreichten. Während das Streikkonzept und der Vertragsinhalt überregional Beachtung fanden, sah die Binnensicht auf den Vertrag beziehungsweise dessen Umsetzung anders aus. Die Beschäftigten mussten erleben, dass konkrete und spürbare Entlastungsmomente im Alltag nur in geringem Maße oder gar nicht griffen. Mehrfach mahnte ver.di die Charité wegen mangelnder Umsetzung des Vertragswerks ab und ließ folgerichtig den Vertrag im Sommer diesen Jahres auslaufen.
Sommerverhandlungen
Mit Ende der Friedenspflicht rief die Gewerkschaft die Charité erneut an den Verhandlungstisch. ver.di forderte vor allem eine Schärfung und Präzisierung der Prozesse, die greifen sollten, wenn das tarifvertraglich zugesicherte Personalniveau akut und mittelfristig unterschritten wird. Entlastungsinterventionen sollen bereits in der Dienstplangestaltung berücksichtigt werden. Die Charité schob sämtliche Umsetzungsschwierigkeiten auf den Fachkräftemangel und war nicht bereit, weitere „gewerkschaftliche Eingriffe“ in die Unternehmensführung zu vereinbaren.
Mittlerweile agierte ver.di in vielen Bundesländern mit Aktivitäten bis hin zu Krankenhausstreiks und das Arbeitgeberlager mühte sich einmal mehr, den Streikerfolg an der Charité wie einen einmaligen Betriebsunfall dastehen zu lassen und entsprechender Druck wurde auch auf die Chefetage der Charité organisiert.
Mit einem begrenzten Warnstreik im August setzte ver.di einen ersten Warnschuss ab, der ungehört verhallte, aber für die Aktiven belegte, dass Potenzial für einen Konflikt auch in den eigenen Reihen vorhanden ist.
Septemberstreik: „Ein Höllenritt“
Mit Erhalt des Streikaufrufs zog die Charité alle Register, um den Streik schon vor Beginn zu zerschlagen. Die Art und Weise wie agiert wurde, fühlte sich für selbst erfahrene StreikorganisatorInnen an, als sei man Opfer einer Aufstandsbekämpfungsstrategie. Die Mobilisierung für die erste Streikwelle war gemessen an vergangenen Streiks eher moderat, bedeutete einige Komplettschließungen und hätte 300 Betten betroffen, was etwa sechzig bis achtzig Menschen für Streikaktivitäten freisetzt. Die Charité verweigerte jedoch den Abschluss einer konsentierten Notdienstvereinbarung nach bewährtem Muster und startete eine gezielte Desinformationskampagne. In weiten Teilen versuchte die mittlere Führungsebene, das Streikrecht ohne Notdienstvereinbarung in Gänze in Frage zu stellen oder alternativ eigene Regeln für Notdienstbesetzungen durchzusetzen. Gefüllte OP-Pläne setzten Streikleitungen unter Druck und führten an einigen Tagen dazu, dass das Streikpotenzial der Anästhesie-Beschäftigten nicht voll ausgenutzt werden konnte.
Die ersten zwei Tage verteidigte ver.di das Streikrecht in den Krankenhäusern und setzte dieses durch. Die konsequente Haltung der Streikenden führte auch dazu, dass aus dem Berliner Senat auf die Geschäftsführung eingewirkt wurde. Die Charité hatte sich mit ihrer harten Linie verzockt. Gegen Ende der Woche bilanzierte ver.di das Erreichen der Kampfziele. Stationen wurden geschlossen, Funktionsbereiche bestreikt und auch im Kampf um die OP-Säle gab es Erfolge.
Mobilisierung für die zweite Streikwoche
Der Streik wurde geplant für eine Woche ausgesetzt und die Vorbereitungen für die zweite Welle begannen. Die nächste Eskalationsstufe hätte ab dem 2. Oktober elf Stationen in die Komplettschließung und weitere Bettensperrungen bedeutet, so dass etwa 600 Betten betroffen und 120 Streikende erwartet worden wären.
Der öffentliche, politische und gewerkschaftliche Druck auf die Charité reichte jedoch aus, das Arbeitgeberlager erneut zu spalten. Nicht nur eine Notdienstvereinbarung, die das Streikrecht in Krankenhäusern sichert, sondern auch Zugeständnisse für eine Schärfung der Vorgaben für den Tarifvertrag Gesundheitsschutz waren die Folge dieses Drucks.
Flucht in den Arbeitgeberverband
Zum 1. Oktober trat die Charité in den Kommunalen Arbeitgeberverband (KAV) Berlin ein. Die erneute Tarifflucht aus dem Haus- in einen Flächentarifvertrag ist problematisch, da der Haustarifvertrag dem klassischen TVöD in einigen entscheidenden Aspekten überlegen ist. Zu diesen Themen wird es eigene Verhandlungen mit dem KAV geben.
Verhandlungen und duale Strategie
In eilig anberaumten Verhandlungen, die zeitnah mit den TarifberaterInnen und der Tarifkommission rückgekoppelt wurden, kam es zu einem verhandelbaren Ergebnis. Der Tarifvertrag Gesundheitsschutz wird rückwirkend wieder in Kraft gesetzt und es gibt eine Verhandlungsverpflichtung für die nächsten Wochen, um einen „gemeinsamen Kommentar“ zu entwickeln, in dem rechtsverbindliche Verschärfungen, Klarstellungen und Prozesse zu vereinbaren sind, die die Kritikpunkte der Belegschaft am Vertragswerk mindern, wenn nicht sogar ausräumen könnten. Die Verhandlungsphase ist eine Phase der Friedenspflicht. Ein Sonderkündigungsrecht des Vertragswerks für ver.di erstmals zu Mitte November hält jedoch den Druck im Kessel. Für den Fall der Notwendigkeit erneuter Streikmaßnahmen mobilisiert ver.di für den Dezember und plant weitere Aktivitäten, die auch für eine Umsetzungsphase von Bedeutung sein könnten.
Eine kampfstarke Belegschaft, die TarifberaterInnen und die gewerkschaftlich Aktiven werden eine entscheidende Rolle bei der Überwachung und Umsetzung des kommentierten Tarifvertrags spielen müssen, damit dieser Vertrag nicht erneut nur ein zahnloses Papierwerk bleibt.
Systemversagen
Die Auseinandersetzungen in Krankenhäusern beginnen ein eigenes Profil zu entwickeln und beide Seiten führen die Kämpfe wesentlich härter als bisher. Der gesellschaftliche und mediale Widerhall belegt, dass wir hier in einem Kernkonflikt gegen die Ökonomisierung des Gesundheitssystems stecken. Das System versagt spürbar und sichtbar für die Öffentlichkeit. Dieses Konfliktpotenzial zu erkennen und zu nutzen bleibt eine existenzielle Aufgabe für GewerkschafterInnen und SozialistInnen.
*Angabe der Funktion dient nur der Kenntlichmachung der Person