Die Lager sind das Problem, nicht die Geflüchteten
Bereits vor dem Ausbruch der Corona-Krise war die Situation für Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen katastrophal. Nach Schätzungen von Pro Asyl sind rund 125.000 Geflüchtete, die von Frontex und der libyschen Küstenwache an der Überquerung des Mittelmeeres gehindert werden, in Libyen gestrandet. Tausende sind in den von verschiedenen Bürgerkriegsparteien und kriminellen Organisationen betriebenen Lagern und Gefängnissen unter grausamen Bedingungen zusammengepfercht. Medizinische Versorgung ist kaum vorhanden, Mangelernährung, Folter und sexuelle Gewalt sind an der Tagesordnung.
von Ianka Pigors, Hamburg
In Bosnien sind ca. 5800 Menschen, davon etwa 1000 Kinder, die versucht haben, über die sogenannte „Neue Balkan-Route“ in die EU zu gelangen, in überbelegten staatlichen Lagern eingesperrt. Mindestens 3000 weitere leben in wilden Camps nahe der kroatischen Grenze und versuchen, sie bei Nacht heimlich zu überqueren. Die kroatische Polizei ist mit mehreren tausend Mann im Einsatz, um diejenigen, die es über die Grenze geschafft haben, mit rücksichtsloser Gewalt zurück zu prügeln. Solche „push-backs“ verstoßen gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, aber das interessiert die Entscheidungsträger*innen in der EU wenig.
Türkei
Die Türkei versuchte, ihre Beteiligung an den Kampfhandlungen in Syrien zum Nato-Bündnisfall zu erklären und forderte Unterstützung von den USA und der EU. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, stellte das türkische Regime den „Flüchtlingsdeal“ zwischen der EU und der Türkei erneut in Frage und öffnete Anfang März die Grenze zu Griechenland. Etwa 13.000 Menschen versuchten daraufhin, in die EU zu gelangen. Griechenland und Frontex reagierten mit massiven Polizeieinsätzen und setzten Gummigeschosse und Tränengas an der Grenze ein. Wer es trotzdem nach Griechenland schaffte, landete in einem eilig errichteten Lager. Für illegale Grenzübertritte wurden unter Verstoß gegen internationales Flüchtlingsrecht drakonische Haftstrafen von bis zu vier Jahren eingeführt. Mindestens fünfzig Menschen aus dem Auffanglager wurden bereits in Schnellverfahren abgeurteilt. Nach Auskunft von „Monitor“ wurden auch Minderjährige, unter anderem ein 12 jähriges Mädchen, angeklagt. Das Asylrecht wurde vorläufig ausgesetzt. Auch wenn einige Flüchtlinge sich inzwischen von der Grenze zurückgezogen haben, harrten Ende März noch etwa 10.000 Menschen unter freiem Himmel auf türkischer Seite aus und hoffen auf eine Weiterreise.
Griechische Inseln
Auf den griechischen Inseln sitzen derweil mehr als 50.000 Geflüchtete fest. Nachdem die EU 2016 ihren „Flüchtlingsdeal“ mit der Türkei geschlossen hat, dürfen sie nicht weiterreisen. Allein in dem berüchtigten Lager Moria auf Lesbos kämpfen in einem für 3000 Personen ausgelegten Camp über 20.000 Menschen ums Überleben.
Mit der Zuspitzung der Corona-Krise hat die EU, die schon bisher nur schleppend umgesetzten Umsiedlungsmaßnahmen für Flüchtlinge fast vollständig ausgesetzt. In den überfüllten Camps bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an. Unter den bei schlechten hygienischen Bedingungen zusammen gedrängten und bereits durch andere Krankheiten und Parasiten geschwächten Menschen könnte sich das Corona-Virus ungehindert ausbreiten und ein Massensterben verursachen. Bereits jetzt gibt es Berichte über Verdachtsfälle in libyschen Lagern.
Wohnungen statt Massenunterkünfte
Auch in Deutschland stellt die Massenunterbringung von Geflüchteten – aber auch von deutschen Obdachlosen – ein Problem dar. In der Lagern und Unterkünften, in denen sich häufig sechs- und mehr Menschen einen Schlafraum teilen müssen, ist „social distancing“ unmöglich. Die Leute haben Angst sich anzustecken- und zwar aus gutem Grund. Am 17. März kam es in der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl zu einem Großeinsatz mit zwei Hundertschaften in Infektionsschutzausrüstung. In dem berüchtigten Lager, in dem es schon seit Jahren Beanstandungen wegen schlechter Infrastruktur – z.B. stundenlangem Anstehen bei der Essensausgabe – gibt, wurden die über 500 Bewohner*innen wegen eines Coronafalls unter Quarantäne gestellt. Es kam zu Protesten, da die Menschen eine erhöhte Ansteckungsgefahr fürchteten. Einige blockierten den Zugang zur Kantine, riefen zu Hungerstreiks auf und versuchten, über den Zaun des Lagers zu entkommen. Die Polizei drang in die Einrichtung ein und nahm etwa zwanzig angebliche Rädelsführer*innen in Gewahrsam. Die Leute wurden in eine ehemalige Jugendarrestanstalt gebracht, wo sie für den Rest der Quarantänezeit eingesperrt bleiben sollen.
In Hamburg stehen in einer Obdachloseneinrichtung 300 Menschen, von denen viele unter physischen und psychischen Problemen leiden oder drogen- und alkoholkrank sind, unter Quarantäne. Die Ansteckungsgefahr und die psychischen Belastungen für die Betroffenen und die Beschäftigten der Einrichtung sind enorm.
Die Festung schließt die Tore
Im Schatten der Corona-Krise wird die Festung Europa weiter ausgebaut. Das Recht auf Flüchtlingsschutz und die Ausübung demokratischer Rechte werden eingeschränkt, legitimer Protest kriminalisiert. Aus Angst vor Ansteckung in Massenunterkünften und Lagern werden die Menschen vermehrt versuchen, sich der staatlichen Kontrolle in den Einrichtungen zu entziehen und untertauchen oder „Platte machen“. Dadurch wird ihr Zugang zu medizinischer Versorgung erschwert und die Gefahr einer unkontrollierten Verbreitung des Virus gesteigert. Illegalisierte Menschen sind besonders stark von Ausbeutung und sexueller und anderer Gewalt bedroht. Gleichzeitig führt die mit Illegalisierung verbundene Verelendung häufig zu Verzweiflungshandlungen, unter denen auch andere, insbesondere andere Arbeitnehmer*innen, zu leiden haben, z.B. durch Schwarzarbeit zu Dumpinglöhnen, Kleinkriminalität, Zahlung von Wuchermieten in illegal überbelegten Wohnungen und Prostitution.
Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot gibt es im Kapitalismus auch ohne Migration. Das Problem sind nicht die Geflüchteten. Die Umverteilung von unten nach oben führt dazu, dass Wohnungen unbezahlbar und existenzsichernde Arbeit knapp wird. Die Geflüchteten verursachen keine Verbreitung des Virus – aber Lager und Massenunterkünfte können seine Verbreitung beschleunigen.
Um das Risiko für alle zu verringern, müssen die Massenunterkünfte und Lager sofort aufgelöst werden. Den Betroffenen muss nach Abklärung des Gesundheitszustands die geordnete Weiterreise innerhalb Europas ermöglicht werden. Vor Ort muss eine dezentrale Unterbringung und unbürokratische Versorgung mit Sozialleistungen und medizinischer Versorgung sichergestellt werden.
Bild: OSCE Parliamentary Assembly (CC BY-SA 2.0)