An dieser Stelle veröffentlichen wir die Rede von Kshama Sawant, Stadträtin in Seattle und Mitglied von Socialist Alternative (Schwesterorganisation der SAV und Sektion der ISA in den USA). Sie äußerte sich direkt vor der Abstimmung im Stadtrat über eine Sondersteuer für Amazon und Großkonzerne. Das Ergebnis dieser Abstimmung: sieben Stimmen dafür, zwei dagegen!
Die heutige Abstimmung über die Einführung einer Amazon-Steuer in Seattle wird einen historischen Erfolg für die arbeitenden Menschen bringen. Dieser Erfolg ist hart erkämpft worden.
Wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass der einzige Grund, weshalb es heute in unserer Haushaltssitzung zur Abstimmung über eine Amazon-Steuer kommt, auf die Stärke unserer Bewegung zurückzuführen ist. Es ist eine Bewegung, die nicht aufgibt und die auch nicht nachgelassen hat, als Bezos (reichster Mensch der Welt und Chef von Amazon; Erg. d. Übers.) 2018 den Stadtrat drangsalierte, was vor zwei Jahren noch zur schmachvollen Rücknahme der damals bereits beschlossenen Amazon-Steuer durch die Mehrheit des Stadtrats geführt hatte. Diese Bewegung gab auch nicht nach, als Bezos im vergangenen Jahr versucht hat, unseren Stadtrat in einer feindlichen Übernahme für sich einzunehmen. Stattdessen haben wir ihm eine heftige Niederlage bereitet. Die Bewegung, von der ich rede, hat sich selbst organisiert in Gestalt von einer ganzen Reihe an basisdemokratische „Aktionskonferenzen“, in deren Rahmen sich hunderte von Menschen an Diskussionen und Debatten beteiligt haben, um schließlich unsere Strategie zu beschließen. Wir sind auch nicht zurückgewichen, als die konzernfreundlichen Vertreter*innen der „Demokraten“ in der Gesetzgebenden Versammlung des Bundesstaats Washington den Versuch unternahmen, ein Verbot von Steuern für Großkonzerne in den Städten durchzusetzen. Damit sollte unsere Bewegung aufgehalten werden. Stattdessen haben wir uns auch dann nicht weichspülen lassen, als die konzernfreundlichen Medien daran gegangen sind, auf breiter Front gegen unsere Bewegung namens „Tax Amazon!“ (dt.: „Besteuert Amazon!“) vorzugehen. Das beschränkte sich nicht allein auf Seattle. Keine geringeren als die Herausgeber*innen des „Wall Street Journal“, ihrerseits treue Diener*innen der gesellschaftlichen Klasse der Kapitalist*innen, haben zwei Kommentare veröffentlicht, in denen unsere Bewegung direkt angegriffen worden ist.
Auch als die Pandemie und die Rezession mit aller Wucht zugeschlagen haben, hat uns das nicht ausbremsen können. Dabei war es über Wochen unmöglich von Angesicht zu Angesicht mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Wir haben auch nicht aufgehört, als es im Stadtrat mit grundlosen Verzögerungen zu tun bekamen. Wir sind heute hier wegen der Solidarität und Entschlossenheit der arbeitenden Menschen, die alle Hürden aus dem Weg räumen wollen, die uns noch im Wege waren. Das ist es, was unsere gesellschaftliche Klasse ausmacht.
Dieser Sieg hat nichts zu tun mit „Hinterzimmergesprächen“ oder “Runden Tischen“ oder anderen Tricks der Großkonzerne, um das aufzuhalten, was in den letzten Monaten stattgefunden hat: Ein kompromissloser Kampf zwischen der gesellschaftlichen Klasse der Milliardär*innen und den arbeitenden Menschen von Seattle. Dieser Sieg steht im klaren Zusammenhang mit mit den immensen Opfern, die tausende von Menschen gebracht haben – an Zeitaufwand und Energie in all den letzten Monaten und sogar Jahren. Auf diese Weise konnten wir damit beginnen, uns die Steueroase Seattle vorzunehmen und die Großkonzerne – nicht mehr die arbeitenden Menschen – zur Kasse zu bitten. Es besteht ein direkter Zusammenhang zur „Black Lives Matter“-Rebellion, die als Reaktion auf den brutalen Polizeimord an George Floyd in Minneapolis ausgebrochen ist und sich dann auf das ganze Land ausgebreitet hat.
Die Legitimation des Status quo ist aufgrund der landesweiten Protestbewegung, der Pandemie und der sich zuspitzende Krise des Kapitalismus grundlegend in Frage gestellt worden. Bei den Protesten nach dem Mord an George Floyd in Seattle ist die „Tax Amazon“-Bewegung auf breite Zustimmung gestoßen. Innerhalb von 20 Tagen haben über 20.000 Demoteilnehmer*innen für die Einführung der Amazon-Steuer unterschrieben. Freiwillige Helfer*innen der „Tax Amazon“-Bewegung haben in nur einem Monat 27.000 Unterstützer-Unterschriften gesammelt, um die Steuer zur Abstimmung zu bringen, mit der Amazon um 300 Millionen Dollar erleichtert wird. Das alles war ohne bezahlte bzw. professionelle Kräfte möglich und zeigt, wie groß die Unterstützung in der Öffentlichkeit ist.
Dieser Sieg steht in direktem Zusammenhang mit der Solidarität der Arbeiterklasse gegen Rassismus, Unterdrückung und ökonomische Ungerechtigkeit. Wegen der Geschlossenheit, die Arbeiter*innen, Unterdrückte, Arbeiter*innenorganisationen, progressive Basis-Strukturen und sozialistische Organisationen in diesem Kampf gezeigt haben, war all das möglich. Es ist der Erfolg unserer mächtigen multi-ethnischen Bewegung.
Wir haben nicht alles erreicht, was wir uns vorgenommen hatten. Diese Amazon-Steuer, wie sie nun zur Abstimmung steht (und zur endgültigen Abstimmung wird erst am Montag kommen), umfasst weniger als die Hälfte des Volumens i.H.v. 500 Millionen Dollar, die unsere Bewegung eigentlich angestrebt hat. Die Gesetzesvorlage beinhaltet nicht die 293 Millionen Dollar, für die wir gekämpft haben, um damit die Angriffe gegen soziale Dienste rückgängig zu machen, zu denen es in der Vergangenheit gekommen ist und die auf die Kürzungshaushalte von Bürgermeisterin Durkan zurückgehen.
Aber wir haben ein automatisches Auslaufen des nun vorliegenden Gesetzes verhindern können, und wir haben für eine Vervierfachung der Einnahmen sorgen können verglichen mit der Amazon-Steuer, die wir 2018 kurzzeitig durchsetzen konnten.
Wir sollten klarstellen: Eine Auslaufklausel in dieser Stadt sollte nicht für diese moderate Steuer auf Großkonzerne gelten. Eine Auslaufklausel muss gelten für das rassistische Handeln der Polizei, das am stärksten regressive Steuersystem der USA, die von der Bürgermeisterin veranlasste Vertreibung von Obdachlosen, die bankrotte Amtsführung von Bürgermeisterin Jenny Durkan und die brutale Herrschaft des Kapitals über die arbeitenden Menschen, die People of Color und die Armen – hier und weltweit.
Auch wenn ich mit den anderen Ratsmitgliedern über Kreuz liege, was ihre Änderungsanträge angeht, die die Gesetzesvorlage verwässern, so will ich ihre grundsätzliche Unterstützung und dass sie für die Annahme dieser Amazon-Steuer sind doch anerkennen. Ich möchte der Stadträtin Morales für ihre Unterstützung in Bezug auf die weitgehende Formulierung der Amazon-Steuer danken, die wir gemeinsam und in Solidarität mit der Bewegung eingebracht haben.
Ich kann aber auch nicht verschweigen, wie viel Ironie in den Worten der Stadträte Pederson und Juarez enthalten ist, wenn sie sagen, dass der Stadtrat die „amazon“-Steuer nicht beschließen, diese aber für ein Referendum einbringen soll. Wo war dieser angeblich „demokratische Geist“ des damaligen Stadtrats, wonach „den Wähler*innen die Entscheidung überlassen“ werden soll, als die Mehrheit dieses Gremiums 2018 für die Rücknahme der Steuer auf Großkonzerne gestimmt hat? Glücklicherweise hat die Mehrheit des Stadtrats heute gegen diesen erneuten Versuch gestimmt, die arbeitenden Menschen abermals zu verraten.
Ich wende mich auch ausdrücklich gegen die Kommentare weiterer Ratsmitglieder, wonach sich diese Gesetzesvorlage grundlegend von meinem Vorschlag von vor zwei Jahren unterscheiden würde. Der Unterschied jetzt besteht nicht aus irgendwelchen Fußnoten im Text. Er besteht darin, dass unsere „Tax Amazon“-Bewegung noch viel stärker geworden ist.
Es sollte allen ganz klar sein, dass die Bewegung das einzige ist, das diesen Sieg möglich gemacht hat: All die arbeitenden Menschen und all die progressiven Gewerkschaften und Basisgruppen, die bis zum Letzten dafür gekämpft haben, dass dies möglich geworden ist, und die den Stadtrat somit zum Handeln gezwungen haben. Wir sollten auch anerkennen, dass die zusätzlichen 40 Millionen Dollar, die heute durchgesetzt werden konnten – auch wenn es eine geringere Summe als die von uns vorgeschlagene ist – immer noch einen Erfolg darstellen, der ganz und gar auf den Druck unserer Bewegung zurückzuführen ist. Sie hat die Forderung aufgestellt, damit den „Green New Deal“ und den Bau von 1.000 Wohnungen im Stadtzentrum zu finanzieren.
Wie wir seit meiner ersten Wahl in den Stadtrat von Seattle im Jahr 2013 immer wieder gesehen haben, basiert alles, was in diesem Gremium erreicht oder auch nicht erreicht wird, ausschließlich darauf, wie stark unsere Bewegung ist. Es geht immer um das Kräfteverhältnis zwischen Arbeiter*innenklasse und der herrschenden Klasse. Unsere „Tax Amazon“-Bewegung war stark genug, um Jeff Bezos in die Knie zu zwingen, aber nicht stark genug, um sämtliche Schlupflöcher im Gesetz, von denen die Konzerne noch Gebrauch machen können, verhindern zu können.
Auch wenn dieses Gesetz weit weniger hergibt, als das, was die „einfachen Leute“ in dieser zutiefst von Ungleichheit geprägten Stadt eigentlich brauchen, so handelt es sich dennoch um einen historischen Sieg.
Wir werden alles in unserer Macht stehende tun, um unsere Bewegung auszuweiten. Unser Motto muss lauten: NEIN zur Austerität in Zeiten von Pandemie und Rezession! Lasst Amazon und die anderen Großkonzerne zahlen, nicht die arbeitenden Menschen! Auf dieser Rebellion gegen die herrschende Klasse müssen wir aufbauen – genauso, wie wir es bei der Kampagne zur Einführung des Mindestlohns von 15 Dollar gemacht haben. So kann der Kampf landesweit und auch international geführt werden. Jeff Bezos, wir sind dir auf den Fersen – wir kriegen dich und deine milliardenschweren Kumpels – hier und überall.
In dieser Auseinandersetzung haben wir ganz deutlich benannt, wer in Wirklichkeit die Macht und die Zügel in Seattle in den Händen hält: Amazon. Viele haben eingewendet, dass wir nicht gegen die Großkonzerne „hetzen“ und stattdessen versuchen sollten, zu einer Kompromisslösung zu finden. Wir wissen aber, dass unsere Macht auf der Selbst-Organisation der Arbeiter*innenklasse basiert und nicht auf Verhandlungen mit der Elite. Wenn jemand aus einer anderen Stadt zuhört: Lasst euch in eurem Kampf für eine Konzernsteuer nicht weismachen, ihr würdet spalterisch agieren. Denn es ist der Klassenkampf, der die Lösung bringt.
Wir müssen die Gunst der Stunde vor Ort nutzen und umgehend die ganze Energie, die dieser historische Sieg freisetzt, in den Kampf zur Mittelkürzung bei der Polizei von Seattle einbringen. Mindestens eine Halbierung der Mittel sollte möglich sein. Aufgeblähte Budgets für die Polizei sollten gekürzt werden, nicht die Mittel für Bildung und lebensnotwendige Sozialprogramme. Der Kampf für die Befreiung der Schwarzen Menschen erfordert auch, dass wir Kampagnen führen müssen zur Einrichtung von Kontrollausschüssen in den Wohnvierteln, die volle Befugnisse über die Polizei haben müssen. Auch über Einstellungen und Entlassungen müssen solche Gremien entscheiden können. Wir brauchen demokratische Kontrolle, um das Ende der Polizeigewalt einleiten zu können.
Natürlich geht es nicht nur um Bezos oder Amazon. Und wir müssen auch deshalb viel weiter gehen, weil progressive Steuern nicht reichen, um zu einer gerechten Gesellschaft mit bezahlbarem Wohnraum für alle und einer nachhaltigen Wirtschaft sowie einem angemessen Leben für jede*n zu kommen. Ganz zu schweigen von einer Gesellschaft, die einen hohen Lebensstandard für alle garantieren und gleichzeitig noch die Klimakatastrophe abwenden kann.
Was die arbeitenden Menschen angeht, so ist der privatwirtschaftlich geführte und profitorientierte Wohnungsmarkt vollkommen gescheitert. Das gilt nicht nur für Seattle sondern den gesamten Bundesstaat Washington. Es gilt nicht nur für die Vereinigten Staaten sondern weltweit. Und dies gilt nicht nur für heute sondern für immer.
Weil der Kapitalismus vollkommen unfähig ist, die grundlegendsten Bedürfnisse der arbeitenden Menschen zu befriedigen, ist er auch vollkommen unfähig, die Klimakatastrophe abwenden zu können. Wir müssen die großen privatwirtschaftlich geführten Baukonzerne und Banken in demokratisch kontrolliertes öffentliches Eigentum überführen. Sie müssen von den Beschäftigten geführt werden, um bezahlbaren Wohnraum für alle sicherstellen zu können. Und wir müssen das selbe tun mit den großen Energiekonzernen, damit ein echter „Green New Deal“ zustande kommen und darüber hinaus die Klimakatastrophe noch abgewendet werden kann. Wir werden die größten 500 Konzerne in demokratisches Eigentum überführen müssen und eine Arbeiter*innen-Regierung brauchen, die den Kapitalismus ein für alle Mal beenden kann.
Natürlich haben wir das mit diesem Kampf für eine moderate Steuer auf Konzerne in einer einzigen Stadt noch nicht erreicht. Die endgültige Abstimmung über diese Amazon-Steuer wird kommenden Montag stattfinden, wenn der Stadtrat zu seiner nächsten ordentlichen Sitzung zusammenkommt. Und selbst dann wird es neue Stimmen darüber geben, wie die zusätzlichen Einnahmen zu verteilen sind.
Wir werden wachsam bleiben und nicht zurückweichen. Wir werden bis zum Letzten und bis zur letzten Minute gegen alle Schlupflöcher kämpfen, die den Konzernen noch gegeben werden sollen, gegen alle Angriffe auf unsere „amazon“-Steuer. Und wir werden kämpfen, um die Gesetzesvorlage weiter zu verschärfen. Im Rahmen der nächsten „Aktionskonferenz“ wird die Bewegung demokratisch entscheiden müssen, ob man dieser „amazon“-Steuer zustimmen kann ob der Kampf bis November weitergehen muss.
Wenn die Konzerne erneut versuchen, diesen Erfolg zu kippen, dann wird unsere Bewegung zu tausenden Hausbesuche machen und auf die Straße gehen, um sie nochmals zu bezwingen. Und wir werden noch weiter gehen.
Weil wir für viel mehr als diese Steuer kämpfen, werden wir den Boden für eine andere Gesellschaft bereiten. Und sollte die herrschende Klasse den Prozess vorantreiben und uns wegen unserer moderatesten Forderungen angreifen werden, dann ist das so. Schließlich treten wir an gegen die Konzerneliten, die herrschende Klasse und ihr verkommenes System. Wir treten an, um dieses zutiefst von Unterdrückung, Rassismus, Sexismus und Bankrott geprägte System namens Kapitalismus mit seinem Polizeistaat niederzureißen. Wir können und werden nicht aufhören, bis es auseinanderfällt und durch eine sozialistische Welt ersetzt worden ist, deren Grundlage aus Solidarität, wirklicher Demokratie und Gleichheit besteht.