In der Nacht vom 10. November landeten die schweren Transportflugzeuge der russischen Armee in armenischen Flughäfen. Russische Fallschirmjäger fuhren in die Richtung Bergkarabach – schwer umkämpftes Gebiet, wo fast 200.000 armenische und aserbaidschanische Soldat*innen fast 6 Wochen lang in blutige Gefechte verwickelt waren. Die russischen Truppen trennten die kämpfenden Parteien voneinander und garantieren nun einen Sicherheitskorridor zwischen Bergkarabach und Armenien.
Kapitulation
Für die armenische Seite bitter: Hierbei handelt es sich keinesfalls nur um einen Waffenstillstand. Die armenische Armee musste kapitulieren. Die Kräfteverhältnisse waren von Anfang an klar: Bewaffnet mit modernen türkischen und israelischen Waffensystemen, unterstützt durch Tausende von Erdogan angeheuerte Djihadisten und türkischen Offizieren zermahlte die Armee von Aserbaidschan Stück nach Stück die Bataillone der Verteidiger*innen von Bergkarabach und der Freiwilligen aus Armenien. Die sowohl personell als auch technisch unterlegene Armee des überwiegend armenisch bewohnten Bergkarabach leistete sechs Wochen lang erbitterten Wiederstand gegen die Armee von Aserbaidschan und konnte sich nur auf die militärische Hilfe Armeniens verlassen. Dieses lieferte der international nicht anerkannten Republik zwar Munition und Reservisten, schreckte aber vor dem Einsatz von Luftabwehrsystemen oder schweren Waffen zurück, da dies der Türkei einen Casus Belli, also einen Vorwand für ein direktes militärisches Eingreifen, gegeben hätte.
Die automatisierten und ferngesteuerten Drohnen waren für die veraltete Luftabwehr von Bergkarabach kaum erreichbar und konnten ohne Schwierigkeiten armenische Panzer, LKWs und Kanonen ausschalten. Hunderte verbrannte Panzer sowie 1.300 gefallene armenische Soldat*innen fielen diesem Bombardement zum Opfer. Jedoch war der Krieg im Berggebiet auch für Aserbaidschan sehr kostenintensiv. Auch wenn die genauen Zahlen aktuell nicht bekannt sind, geht die Zahl der gestorbenen, verletzten und vermissten aserbaidschanischen Soldat*innen und syrische Söldner*innen in die Tausende. Trotz dieser Verluste erreichte die aserbaidschanische Armee am 07.11.2020 die Stadt Schuscha (Şuşa) und kappte dadurch die wichtigste Transportarterie zwischen Bergkarabach und Armenien. Faktisch sind die Verteidigungslinien der bergkarabachischen Armenier*innen zusammengebrochen. Der Zufuhr von Munition und Reserven aus Armenien war kaum noch möglich, da die Bergstraßen durch Flüchtlingsströme versperrt waren. Der Weg zur Hauptstadt Bergkarabachs, Stapanakert, war für die aserbaidschanischen Truppen offen.
Die plötzliche Wende im Konflikt fand statt, als die aserbaidschanische Armee am 09. November zufällig einen russischen Hubschrauber in der Nähe der Staatsgrenze abschoss. Die regionale Supermacht Russland benutzte den Tod von zwei Piloten anscheinend als Druckmittel, um die Kriegshandlungen sofort zu beenden und den Einmarsch der russischen „Friedenstruppen“ durchzusetzen. Auch die Erschöpfung der aserbaidschanischen Armee spielte dabei eine Rolle. Faktisch beobachten wir das gleiche Szenario wie im Nordsyrien, wo die imperialistischen Länder neue Grenzen und Einflusszonen schaffen. Die russischen Truppen marschieren nach Bergkarabach und bauen dort Stützpunkte auf, die materiell den Einfluss der atomaren Großmacht in der Region festigen werden. Jedoch eilte auch der zweite ,,Möchtegern“-Bonaparte Erdogan zur Aufteilung des Kuchens. Obwohl seine Truppen nicht direkt an den Grenzen der Konfliktregion stationiert werden, stärkt er seine militärischen Posten in ganz Aserbaidschan. Die herrschende Klasse Irans beobachtet sehr angespannt die Verstärkung der Türkei an seiner nördlichen Grenze und konzentrierte in der Nähe Aserbaidschans seine motorisierten Truppen und Panzer.
Historische Hintergründe
In unserer Zeitung gab es bereits einen detaillierten Überblick der historischen Ereignisse, die zum Ausbruch des aktuellen Krieges führten. Historisch gesehen waren beide Völker, Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen, lange Zeit Opfer der aggressiven Politik der regionalen Großmächte Russland, Persien und dem Osmanischen Reich. Die einzige langfristige Zeitperiode, in der Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen friedlich koexistierten, waren die Zeiten der Sowjetunion. Als die sowjetische Bürokratie Ende der 1980er-Jahre einen kapitalistischen Umsturz in der UdSSR startete, explodierte der multinationale kaukasische Flickenteppich. Die ethnischen Nationalisten und religiösen Spalter stifteten zusammen mit den neuen Reichen mehrere Kriege, Pogrome und Vertreibungen. In einem von diesen Kriegen gewann Armenien den Krieg um umstrittene Gebiete gegen Aserbaidschan. Das Ergebnis war im Jahr 1994 eine faktische Annexion nicht nur des armenisch geprägten Bergkarabachs, sondern auch um die benachbarten aserbaidschanischen Gebiete. Bei dieser Annexion wurde die aserbaidschanische und kurdische Bevölkerung vertrieben. Der Krieg war folglich nie richtig zu Ende. Aserbaidschan akzeptierte nicht den Verlust von einem Viertel des Territoriums. Der Horror des ständigen Artilleriebeschusses und die Sabotage hinter den Linien des Feindes ist zum Alltag in Bergkarabach geworden.
Die Rolle Russlands.
Auf dem Papier spielte Russland die Rolle der Schutzmacht Armeniens. Ein russischer Militärstützpunkt ist in der Nähe der armenisch-türkischen Grenze stationiert. Das russische Kapital kontrolliert die Energieversorgung, Eisenbahn, Atomindustrie und Gaslieferungen Armeniens. Die russischen Armenier und Arbeitsmigranten aus Armenien stellen mit fast drei Millionen Menschen in Russland eine große Diaspora. Allerdings weigerte sich Russland die militärischen Garantien auf Bergkarabach zu erweitern, um Ärger mit wichtigen Handelspartner Aserbaidschan zu vermeiden. Auch in Aserbaidschan verfolgt die russische herrschende Klasse wirtschaftliche Interessen. Die Regierung Putins versorgte beide Seiten mit Waffen, um aus der Balance die größten Profite zu erzielen. Die stabile Rolle des Schiedsrichters des eingefrorenen Konflikts sicherte der Einfluss Russlands in der Region und das weitere Bestehen der russischen Militärbasis in Armenien. Jedoch verschlechterte sich die Beziehung Armeniens und Russlands als infolge der Revolution des Jahres 2018 die Massen den Korrupten Premierminister Sargsjan vertrieben. Die neue liberale Regierung von Nikola Paschinjan versuchte die Beziehungen zu USA und EU zu intensivieren, was zur Abkühlung des Verhältnisses zwischen Armenien und Russland führte. Als der von Erdogans Kapitalist*innen und revanchistischen eigenen Nationalisten angestachelte Präsident Aserbaidschans, Aliyev, vor sechs Wochen den neuen Krieg begann, war Armenien politisch und militärisch isoliert. Weder Russland noch der Iran waren bereit direkt an der Seite Armeniens zu intervenieren. Nicht auszuschließen ist, dass die russische herrschende Clique Armenien ans Messer lieferte, um die unerwünschte Regierung Armeniens zu schwächen.
Die Zukunft
Die neue politische Realität mit der verstärkten militärischen Präsenz der russischen und türkischen Truppen im Südkaukasus führt weder zu Frieden noch kann sie die nationalen Spaltungen überwinden. Wie nach dem letzten Krieg von 1994 kam es in letzten Tagen zu einer neuen Welle von Flüchtlingen. Bergkarabach wird buchstäblich entvölkert – die einzige demografisch relevante Bevölkerungsgruppe stellen bald die russischen, armenischen, aserbaidschanischen und türkischen Soldaten. Der Knoten der ethnischen, religiösen, militärischen und vor allem wirtschaftlichen Widersprüche in der Region ist nicht gelöst, sondern mit militärischer Gewalt nur enger gezogen worden. Je mehr Soldatenstiefel sich auf dem Boden Bergkarabachs befinden, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs eines neuen großen Regionalkrieges mit noch mehr Beteiligten.
Am Abend 9. November verwüsteten durch die militärische Niederlage aufgebrachte Armenier*innen das Regierungsgebäude. Ihre Frage klingt wie eine Anklage: ,,Wenn ihr hinter unseren Rücken heimlich den Frieden beschlossen habt, warum habt ihr das nicht früher gemacht? Warum sind unsere Söhne gestorben?“ – lautete die Hauptfrage dieser Nacht. In Aserbaidschan gab es trotz des lauten Tamtams der Kriegspropaganda eine Gruppe von linken Jugendlichen, die offen zum Frieden und Solidarität aufgerufen hat. Die momentan von Tribalismus vergiftete, durch die bürgerliche Propaganda desorientierte, gespaltene Massen der gesamten Region wird nach dem nationalistischen Rausch mit einem Kater aufwachen und sich bald mit alten Problemen konfrontiert sehen – alle Konfliktparteien inklusive der Türkei befinden sich wirtschaftlich im freien Fall. Dies eröffnet allerdings auch Perspektiven für das Aufkommen neuer Klassenkämpfe. Schon vor mehr als 100 Jahren stellte der amerikanische Sozialist Eugene Debs fest: ,,Die herrschende Klasse hat immer die Kriege erklärt; die unterdrückte Klasse hat sie gekämpft.“
Aus der endlosen Spirale aus Gewalt und Gegengewalt können sich die Völker im Kaukasus und weltweit nur befreien, wenn sie Seite an Seite für eine Föderation sozialistischer Demokratien kämpfen, in welcher das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft wurde.