Die gegenwärtige Etappe und die Aufgaben von Sozialist*innen. Seit dem 10. August 2020 haben heroische Massenproteste Belarus erschüttert und sind trotz des offenen Terrors des Regimes, der Polizeigewalt und der Massenverhaftungen nicht zum Erliegen gekommen. Wie geht es jetzt weiter?
von Supratsiwlenine Pratsownykh (Arbeiter*innenwiderstand), ISA-Unterstützer*innen in Belarus
Seit dem 10. August, als die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen bekannt gegeben wurden und Alexandr Lukaschenko behauptete, über 80% der Stimmen gewonnen zu haben, haben heroische Massenproteste Belarus erschüttert. Sie wurden mit Polizeigewalt und Massenverhaftungen beantwortet. Bis heute wurden über 30.000 Menschen verhaftet, viele Oppositionelle gezwungen, das Land zu verlassen, andere durch Polizeieinsätze verletzt.
Bild oben: Pro-Lukaschenko-Demo mit Unterstützung der örtlichen Kommunist*innen. Unten: Anti-Lukaschenko-Protest in Minsk
Das eindeutig gefälschte Ergebnis der Wahl und die brutale Polizeigewalt in den Tagen danach waren die Auslöser, die die Massen in den Kampf zwangen. Ende August reagierte die Arbeiter*innenklasse auf die Gewalt mit unorganisierten, spontanen Kundgebungen und Streiks. Obwohl der landesweite Streik abflaute, nachdem die Polizeigewalt zurückging, schlossen sich viele Teile der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten den Protesten an: Fabrikarbeiter*innen, Frauen, Rentner*innen, aber auch Studierende, Beschäftigte im medizinischen und Bildungsbereich. Als die Demonstrant*innen nach neuen Wegen suchten, sich zu organisieren, begannen Innenhof-/Stadtteilkomitees, die sich auf die Menschen stützten, die in den Häusern rund um die Innenhöfe leben, eine wichtige Rolle zu spielen.
Die Krise des Lukaschenko-Regimes
Alexandr Lukaschenko ist seit Juli 1994 an der Macht. Sein Regime befand sich bis jetzt noch nie in einer so tiefen Krise. Tatsächlich haben sich die Widersprüche, die zu dieser Krise geführt haben, in den letzten zwanzig Jahren angehäuft. Schleichende Privatisierung, Kürzungen im Sozialhaushalt und die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise haben ihren Teil dazu beigetragen.Die Arbeiter*innen haben keine Sicherheit mehr am Arbeitsplatz – sie sind auf Basis von Zeitverträgen beschäftigt, während vor kurzem eine Reform des Rentensystems durchgedrückt wurde. Ein großer Angriff, der 2018 zu Massenprotesten führte, war die „Schmarotzersteuer“, eine Abgabe für die halbe Million Arbeitslosen, von denen das Regime glaubt, dass sie der Gesellschaft nichts zu bieten haben.Die Anti-Regime-Stimmung wurde durch das Coronavirus noch verstärkt. Lukaschenko ist ein klassischer Virusleugner, der behauptet, das Virus ließe sich mit einem Schuss Wodka verhindern.
Die deutliche Veränderung im Massenbewusstsein vor der Wahl rief eine Spaltung der herrschenden Elite hervor. Viktor Babariko, ehemaliger Chef der BelGazprombank, einer Tochtergesellschaft der russischen Gazprom, und Valery Tsapkalo, der 1994 Lukaschenkos Präsidentschaftskampagne anführte und danach in seiner Regierung als Botschafter und als Leiter des von der Regierung unterstützten IT-Parks diente, kündigten an, bei den Präsidentschaftswahlen gegen ihn anzutreten. Ihnen schloss sich der populäre Blogger Sergei Tichanowsky an. Das Regime reagierte mit der Eröffnung von Strafverfahren gegen alle drei – Tsapkalo floh aus dem Land, die beiden anderen wurden verhaftet. Es blieb dann Swetlana Tichanowskaja überlassen, die Fahne der Opposition bei der Wahl hochzuhalten.
Die Besonderheiten des belarussischen Kapitalismus
Anders als in anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion in den 1990er Jahren ging das Lukaschenko-Regime nicht den Weg der „Schocktherapie“ auf der Basis von Massenprivatisierungen. Er konnte dies nur tun, weil Belarus eine wichtige Transitroute für russisches Öl und Gas nach Europa ist und die Einnahmen daraus genutzt wurden, um die Wirtschaft des Landes über Wasser zu halten. Noch im Jahr 2020 arbeiteten 40% der Beschäftigten in Belarus in „Staatsbetrieben“. Trotz dieses Status gab es keine Form der Arbeiterkontrolle oder gar Beteiligung an der Führung der Betriebe, und diese Unternehmen sind auch nicht an eine staatliche Planung gebunden, wie zu Sowjetzeiten. Diese staatseigenen Betriebe müssen im Marktsystem überleben und handeln wie private Unternehmen. Die Staatsbeamt*innen, die sie leiten, unterscheiden sich im Grunde nicht viel von den Oligarch*innen und Großkapitalist*innen. Sie finden Wege, um Geld in ihre Taschen zu stecken und so wenig wie möglich an den Staatshaushalt abzuführen. Die Arbeiter*innen haben ohne richtige unabhängige Gewerkschaften keine andere Möglichkeit, als in diesen Betrieben zu den vom Management diktierten Bedingungen zu arbeiten. Lukaschenkos kannibalistisches Vertragssystem entmündigt die Arbeiter*innen noch mehr, da sie jederzeit entlassen werden können und sogar einen Teil ihres Verdienstes zurückzahlen müssen. Die Arbeitgeber*innen nutzen diese Situation voll aus und sagen den Arbeiter*innen, dass sie die Möglichkeit haben, eine*n „ehrlichere*n Arbeitgeber*in“ zu finden, wenn ihnen etwas nicht gefällt.
Die Überlegenheit der sowjetischen Wirtschaft basierte auf Staatseigentum und zentralisierter Planung, mit einer Arbeitsteilung zwischen den Ländern des Sowjetblocks. Auf dieser Grundlage wurde die UdSSR von einem rückständigen, halbfeudalen Land zur zweiten Weltwirtschaftsmacht. Aber bürokratische Misswirtschaft, die riesigen Ausgaben für das Wettrüsten und den Unterhalt der Staatsbeamt*innen und vor allem das Fehlen einer Arbeiter*innendemokratie, die die Ungleichgewichte in der Produktion korrigieren und die Politik des Arbeiter*innenstaates ändern könnte, führten schließlich zu einer ausgewachsenen Krise. Als die bürokratischen Schichten, die weit von den Massen entfernt waren, erkannten, dass sie durch die Einführung des Kapitalismus noch mehr gewinnen konnten, entschieden sie sich für die Restauration.
Der Zusammenbruch des Sowjetsystems ließ die belarussische Wirtschaft ohne das Schlüsselelement zurück, das die sowjetische Wirtschaft antrieb – die zentrale Planung. Unter Beibehaltung eines großen öffentlichen Sektors konnte das belarussische Regime eine Wirtschaft aufrechterhalten, die auf den Gewinnen aus dem Öl- und Gastransit von und nach Russland basierte, d.h. es erhielt tatsächlich Subventionen von Russland im Austausch für enge wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen. Die Gelder aus Öl und Gas wurden einerseits zur Unterstützung des Sozialhaushalts und andererseits zur Bereicherung der neuen Oligarch*innen – Lukaschenkos Freund*innen und Verwandte – verwendet. Dieses System war mehr oder weniger stabil, bis es von der Weltwirtschaftskrise getroffen wurde. Die russischen Öl- und Gasoligarch*innen beschlossen, die Preise für Belarus zu erhöhen, was den Anfang vom Ende für das ganze belarussische System bedeutete.
Der belarussische Kapitalismus hat viele Dollarmilliardär*innen hervorgebracht, die berühmtesten von ihnen sind A. Milnichenko, D. Mizepin, A. Klyamko, V. Kisly, V. Peftiev. Es gibt auch mehr als 7000 Dollar-Millionäre. Lukaschenko wird oft „Batska“ (Vater auf Belarussisch) genannt – er ist sicherlich der Vater des belarussischen Kapitalismus. Egal wie sehr sich Liberale einen anderen, ehrlichen Kapitalismus wünschen und behaupten, dass es in Belarus den „falschen Typ des Kapitalismus“ gäbe: Lukaschenkos Kapitalismus ist der echte.
Die Aussichten für die belarussische Wirtschaft
Das BIP begann schon vor Beginn der Proteste zu fallen. Nach den letzten Prognosen wird es im Jahr 2020 um etwa 1,5-2% gesunken sein. Die Investitionen in der Industrie sind zurückgegangen, da diejenigen, die über Geld verfügen, Instabilität fürchten während in den letzten sechs Monaten mindestens 1,5 Milliarden Dollar an Bargeld an Geldautomaten abgehoben wurde. Dies trug dazu bei, dass der belarussische Rubel um etwa 10% an Wert verloren hat. Dies wirkt sich auf die Kaufkraft von Löhnen und Renten aus. Die von Russland zur Rettung der Regierung bereitgestellten Subventionen in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar reichen bei weitem nicht aus, um die Probleme des Landes zu lösen.
Investor*innen warnen davor, zu investieren, solange die Proteste und die Instabilität andauern, was einmal mehr zeigt, dass sich das private Kapital nur um die Erzielung von Profiten kümmert und nicht um demokratische Rechte. Selbst unabhängig von anderen, äußeren Einflüssen wird die Wirtschaft in dieser Situation stagnieren.
Wenn die Proteste für eine Weile abflauen und Lukaschenko an der Macht bleibt, wird es für ihn nicht einfach sein, aus dieser Stagnation herauszukommen. Es ist unwahrscheinlich, dass Russland seine Subventionen drastisch erhöht, angesichts der Schwierigkeiten, mit denen die russische Wirtschaft bereits zu kämpfen hat. Es ist auch nicht wahrscheinlich, dass die Öl- und Gaspreise in naher Zukunft ernsthaft steigen werden, so dass die Regierung vom Transit profitieren könnte. Lukaschenko hat keine Mittel, um diese Krise zu überwinden.
Ein Vorschlag zur Beschleunigung der Privatisierung wichtiger Staatsunternehmen wurde bereits unterbreitet. Aber die Privatisierung ist in den letzten zehn Jahren ins Stocken geraten, nicht weil die Regierung keine Lust hat, die Pläne der Weltbank umzusetzen, sondern wegen eines generellen Mangels an Kapital, das dazu bereit ist, in Belarus zu investieren. In dieser Situation besteht die einzige Möglichkeit darin, die Wirtschaft endlich für russisches Kapital zu öffnen. Das ist natürlich auch eine Option, wenn jemand wie Babariko, der dem russischen Kapital nahesteht, an die Macht kommt. Dies würde die Wirtschaft für die Privatisierung und die allgemeine russische Haushaltspolitik öffnen, die auf weiteren Kürzungen im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und bei den Sozialausgaben beruht.
Aber auch im anderen Szenario hätte sich wenig geändert, also wenn eine eher EU-orientierte Führungspersönlichkeit an die Macht gekommen wäre. Die gleichen neoliberalen Rezepte stünden auf der Tagesordnung: Privatisierung und Austerität. Die belarussische Bevölkerung wird seit langem als russlandfreundlich angesehen. Anders als in der benachbarten Ukraine gab es keine starke nationale Frage. Selbst während der Proteste war keine Pro-EU-Stimmung zu spüren, wie sie während der „Maidan“-Proteste 2013/14 in Kiew herrschte. Die Intervention des Kremls zur effektiven Unterstützung Lukaschenkos hat jedoch zu einem deutlichen Anstieg der Pro-EU-Stimmung geführt. Ende des Jahres zeigte eine Umfrage der „Belarussischen Analytischen Werkstatt“ einen Rückgang um 11% auf 40% derjenigen Belarussen, die ein Bündnis mit Russland unterstützen, und einen Anstieg um 25% auf 33% derjenigen, die für eine Orientierung in Richtung EU sind. Belarus ist seit langem Teil der Weltwirtschaft, die derzeit eine der schlimmsten Krisen der Geschichte durchlebt. Die Klassenungleichheit, die sich bereits auf einem historisch hohen Niveau befindet, wird selbst in den „entwickelten Ländern“ weiter zunehmen, und Länder wie Belarus werden weitverbreitete Armut erleben.
Demokratie, Bonapartismus und Kapitalismus
Jede kapitalistische Elite würde es vorziehen, mit demokratischen Mitteln zu regieren. Es ist nicht nur billiger. Das Vorhandensein demokratischer Institutionen in Form von Parlamenten für die Reichen, Gerichten zur Schlichtung des Wettbewerbs zwischen den Klassen und dem Schutz des Eigentums bietet eine zusätzliche Versicherung für ihre Herrschaft. Ein solches System bietet meistens die Möglichkeit, die Führung der Arbeiter*innenklasse zu neutralisieren, indem man sie in die staatlichen und politischen Strukturen integriert.
Aber eine solche Elitendemokratie ist nur möglich, wenn sich die Oligarch*innen und die verschiedenen Schichten der Kapitalist*innenklasse untereinander einigen können, wenn sie nicht von Streikbewegungen und Massenunzufriedenheit bedroht sind und wenn sich die Wirtschaft im Aufschwung befindet. Ansonsten werden sich die Eliten auf einen Bonaparte verlassen, einen Diktator-Schiedsrichter, der die Macht in seinen eigenen Händen konzentriert und seine eigenen autoritären Methoden anwendet, um die Probleme der gesamten Klasse zu lösen.
Ein solcher war Lukaschenko in Belarus in den 1990er Jahren, ein Bürokrat, der die Restauration des Kapitalismus zu ihrem logischen Abschluss bringen sollte. Er verfolgte eine Strategie der langsamen Privatisierung, die keinen gewaltsamen Widerstand der Arbeiter*innenklasse und der Werktätigen, einschließlich der Intellektuellen, vieler Selbständiger und Studierender, hervorrufen sollte. Er sprach von einem sozial orientierten Kapitalismus mit nationalen Merkmalen, der die Entstehung der neuen kapitalistischen herrschenden Klasse ermöglicht, während er mit populistischen Parolen mit der Arbeiter*innenklasse kokettierte, als ob er ihre Interessen vertreten würde.
Im Kapitalismus gibt es keine Immunität gegen Tyrannei. Selbst in den am weitesten entwickelten Ländern werden heute die demokratischen Freiheiten der Massen angegriffen und autoritäre Tendenzen sind auf dem Vormarsch. Dieser Prozess beschleunigte sich nach der Weltwirtschaftskrise von 2007-8 und insbesondere mit dem Ausbruch der Pandemie.
Der Staatsapparat in modernen „bürgerlichen Demokratien“ – d.h. seine Beamt*innen, Richter*innen, Militärgeneräle, parlamentarischen Institutionen – sind nur in dem Sinne neutral, dass sie den Interessen der gesamten Kapitalist*innenklasse dienen, und ihre Loyalität wird mit hohen Gehältern, Privilegien und Prestige erkauft. Vieles davon ist legitimiert, da die Kapitalist*innen für sich selbst bereits günstige Spielregeln festgelegt haben. Doch in Zeiten der Wirtschaftskrise beginnt der Staatsapparat, gegen die verarmten Massen oder im Interesse einzelner Teile der Kapitalist*innenklasse zu handeln. Die Illusion der „Demokratie für alle“ beginnt schnell zu schwinden.
Man sagt uns, die Alternative zu Lukaschenkos Bonapartismus sei Demokratie, gemeint ist Demokratie für die herrschende Klasse. Aber das ist kein Ausweg: Demokratie auf kapitalistischer Basis wird die sozialen Probleme, Ungleichheit, Armut nicht lösen.
Forderungen und Führung der Proteste
Nur wenige erwarteten, dass Lukaschenko eine faire Wahl organisieren würde. Aber die Bekanntgabe der Ergebnisse, als er mehr als 80% der Stimmen für sich beanspruchte, war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation, den arbeiter*innenfeindlichen Reformen und dem Mangel an grundlegenden Freiheitsrechten trieb die Massen zum Protest. Angetrieben von dem Wunsch nach Veränderung, begannen sie den Sturz der Diktatur zu fordern. Was als friedlicher und relativ ruhiger Protest begann, wurde bald mit gewaltsamer Unterdrückung beantwortet. Die Anwendung von Polizeigewalt, vor allem wenn sie sich gegen Arbeiter*innen richtete, rief in den großen Industriebetrieben Wut hervor. Zu der Forderung, das Regime zu stürzen, gesellte sich der Ruf nach einem „Tribunal für die Täter“, und die Parole „Freiheit für politische Gefangene“ wurde immer lauter.
Die verschiedenen Klassen und Schichten, die zum Protest aufriefen, hatten unterschiedliche Motive. Die liberale Elite verstand, dass die Manipulation der Wahlen ein Manöver war, um zu verhindern, dass sie auf einer Welle der Massenunzufriedenheit an die Macht kam. Denn die große Mehrheit der Bevölkerung – medizinische Arbeiter*innen und solche aus der Schwerindustrie, viele Studierende und junge Leute usw. – lehnte das Regime ab, da sie in ihm die Fortsetzung der bisherigen katastrophalen Wirtschafts- und Sozialpolitik sahen. In Ermangelung eigener Organisationen der Massen, insbesondere der Arbeiter*innenklasse, war es die liberale Elite, die für sich in Anspruch nahm, im Namen aller Demonstrant*innen zu sprechen.
Aufgrund ihrer Klassenposition hat die liberale Elite ihre eigenen Gründe, diesen Diktator loszuwerden, indem sie sich, wenn nötig, auf die Arbeiter*innen stützt, um dies zu tun. Sie tun das so, dass diese Arbeiter*innen nicht selbst ausreichend unabhängig und organisiert werden, damit sie sich nicht morgen gegen die neue herrschende Elite – die Kapitalist*innen und Oligarch*innen – nach Lukaschenko wenden können. Die Oppositionselite organisierte schnell den „Koordinationsrat“, in der Hoffnung, dass dieses Gremium die Macht übernehmen würde, sobald der Diktator vertrieben worden war. Ab einem bestimmten Punkt, als Hunderttausende im ganzen Land auf die Straße gingen, schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Als Lukaschenko begann, die Situation zu stabilisieren, begann die Opposition zu zersplittern, schuf andere Gremien und suchte nach Wegen, ihre Position zu stärken.
Die verschiedenen Oppositionseliten, die für sich in Anspruch nehmen, im Namen der Demonstrant*innen zu sprechen, spiegeln den Zustand der liberalen Bourgeoisie in Belarus selbst wider. Von allen politischen Persönlichkeiten war nur Tichanowskaja, eine eher zufällig in die Politik hineingezogene Figur, dazu in der Lage, die Stimmung der Demonstrant*innen mehr oder weniger zu erfassen und eine Art Dialog mit ihnen zu führen. Sie begann zu versprechen, dass es im Falle ihres Sieges einige Verbesserungen für Teile der Arbeiter*innenklasse geben würde, aber es war schon zu spät. Am Ende hatte das öffentliche Ultimatum, das sie mit dem Aufruf zu einem landesweiten Generalstreik Ende Oktober stellte, um einen entscheidenden Angriff der Massen auf das Regime zu starten, wenn Lukaschenko nicht zurücktritt, wenig Wirkung. Der Rest der liberalen Elite, unfähig, den Massen etwas anderes anzubieten als eine weitere neoliberale Politik, stellte keine sozialen oder wirtschaftlichen Forderungen, die die Lage der Massen verbessern könnten. In Worten sahen sie wie Protestführer*innen aus, aber in Wirklichkeit waren sie es nicht.
Hätte die Bewegung in diesem Stadium gewinnen können?
Wenn ein Sieg als Lukaschenkos Sturz oder Neuwahlen definiert wird, hätte die Protestbewegung in den ersten Wochen oder sogar Tagen der Bewegung gewinnen können, wenn die Führung zumindest teilweise kompetent gewesen wäre und klare Aufrufe auf der Grundlage einer Proteststrategie gemacht hätte. Das hätte bedeutet, die Menschen in die Diskussion über Taktiken, Strategien und Forderungen einzubeziehen und eine Massenagitation zu verbreiten, um noch mehr Menschen zu überzeugen, sich dem Kampf anzuschließen. Zum Beispiel sprach die Arbeiter*innenklasse auf den Fabrikkundgebungen über die Notwendigkeit, das Zeitvertragssystem abzuschaffen und unbefristete Verträge einzuführen, die die Arbeiter wirklich schützen würden. Doch keine der Eliten wagte es, die Erfüllung diese Forderung zu versprechen. Der Koordinationsrat veröffentlichte in aller Stille ein Dokument, in dem von einer „Verbesserung“ (?) des Zeitvertragssystems die Rede war. Am Ende wurde der Protest einfach als wöchentliche rituelle Demonstration dargestellt.
Gegen Ende des Jahres, als die Proteste abebbten, begann die Oppositionsgruppe Nexta, der die populärsten Protestmedien gehören, anarchistisches Material zu veröffentlichen, das auf Aufrufe zur Ausübung von kleinstädtischem Terror gegen Regierungsbeamt*innen hinauslief. Belarus hat eine gewisse Tradition des Partisan*innenkampfes aus dem Zweiten Weltkrieg, als sich antifaschistische Kämpfer*innen in den Wäldern versteckten, während sie Aktionen gegen die Nazi-Besetzung durchführten. Aber heute unterstützt niemand diese sinnlosen und provokativen Aufrufe zum Guerillakampf, außer den Anarchist*innen selbst, obwohl einige auf ein Zeichen warten, dass sie Mistgabeln und Messer in die Hand nehmen und die Polizeistationen stürmen sollen.
Aber Nextas Beiträge vermitteln einigen Demonstrant*innen den Eindruck, dass die Protestführung verzweifelt und unfähig ist, das Scheitern der feigen und antidemokratischen Strategie zu erklären, die auf dem Höhepunkt des Protests angewandt wurde, als die liberale Führung den Kampf auf Aufrufe zu „friedlichem Protest und das Umarmen der OMON-Bereitschaftspolizei und das Überreichen von Blumen“ beschränkte.
Selbst jetzt hätte die Bewegung noch triumphieren können, wenn sie ihr eigenes Führungsgremium gehabt hätte, ein Komitee des Kampfes, das gewählte Vertreter*innen aus Fabriken und Streikkomitees, Universitäten und Höfen umfasst. Aber die Oppositionselite wird diese Option nicht einmal in Betracht ziehen, da sie ihre Position bedroht.
Supratsiwlenine pratsownykh, ISA-Unterstützer*innen in Belarus, argumentiert, dass die Forderung nach dem Abgang Lukaschenkos und der Freilassung aller politischen Gefangenen mit Forderungen nach einem Ende der Privatisierung, des Vertragssystems und der Rentenreformen sowie der Wiederherstellung einer kostenlosen und qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung und Bildung verbunden werden muss. Mit der Arbeiter*innenklasse an der Spitze dieses Kampfes wäre dies die Grundlage für die Bildung einer Massenarbeiter*innenpartei mit einem sozialistischen Programm, die Aufstellung von Kandidat*innen bei den kommenden Wahlen sowie die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, in der gewählte Vertreter aller Werktätigen entscheiden können, wie Belarus im Interesse der Arbeiter*innenklasse demokratisch regiert werden soll, ein demokratisches, unabhängiges und sozialistisches Belarus als Teil einer größeren Föderation demokratischer sozialistischer Staaten.
Wie geht es weiter?
In den letzten Monaten hätte sich die Situation unterschiedlich entwickeln können.
Die erste Möglichkeit ist die Niederlage Lukaschenkos und die Demontage seines Regimes. Das wäre durchaus möglich gewesen, wenn die Massenbewegung eine wirkliche Führung gehabt hätte, die sich auf die Arbeiter*innenklasse stützt und Streiks als einen wichtigen Teil ihrer Strategie einsetzt. Aber auch ohne eine solche Führung hätte das Regime, wenn es die Gewalt der ersten Tage nach der Wahl fortgesetzt hätte, die Wut so weit anheizen können, dass keine noch so große Repression die Ausbreitung der Proteste hätte stoppen können. Dies hätte zu einem spontanen Sturz des Regimes führen können, wie es z.B. während des „Arabischen Frühlings“ in Ägypten geschah.
Natürlich sind wir keine Verfechter*innen des Ansatzes „je schlimmer, desto besser“. Nur wer kein Vertrauen in die Arbeiter*innenklasse hat, kann darauf hoffen, dass die Gewalt des Regimes die Menschen zum Handeln provoziert. Es ist durchaus möglich, dass solche gewaltsamen Aktionen des Regimes auch zur völligen Vernichtung der Proteste führen können, wie es 2011 in Kasachstan nach dem Massaker an den streikenden Ölarbeiter*innen in Zhanaozen geschah.
Ein Massenkampf, wie er in Belarus in den letzten vier Monaten stattgefunden hat, entwickelt sich nie linear. Er hat seine Höhen und Tiefen. Es ist offensichtlich, dass wir uns jetzt in einer Ebbephase befinden. Dies wird eine vorübergehende Phase sein, und wie lange sie andauern wird, hängt von weiteren Ereignissen ab. Lukaschenko scheint sich darauf vorzubereiten, die Verfassung zu ändern und deutet sogar an, dass er selbst zurücktreten könnte, nachdem die Änderungen verabschiedet wurden. Höchstwahrscheinlich werden die wöchentlichen Demonstrationen in irgendeiner Form für einige Zeit weitergehen und die entschlossensten Aktivist*innen anziehen.
Es ist zu erwarten, dass ein gewisses Element der Demoralisierung und Müdigkeit auftritt. Aber das sollte kein Grund zur Verzweiflung sein. Es gibt den Aktivist*innen vielmehr Zeit, über das Geschehene nachzudenken, sich besser zu organisieren und sich auf die nächste Phase vorzubereiten. Dies sollte in dem Verständnis geschehen, dass die belarussische Gesellschaft nicht zu ihrem vorherigen Zustand zurückkehren kann. Die Massen werden sich daran erinnern, wie sie dem Regime monatelang Widerstand geleistet haben.
Die Rolle von Sozialist*innen in der „demokratischen“ Revolution
Die Oppositionselite beschränkte den Protest auf demokratische Forderungen nach „fairen Wahlen“ und ignorierte die Notwendigkeit sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen. Die liberale Opposition spricht von den Interessen der Nation und der Notwendigkeit, das Volk zu vereinen, aber damit meinen sie, dass sie führen, während der Rest passiv die Politik unterstützt, die sie verfolgen wollen. Insbesondere die Politik der liberalen Opposition, die jeder*m streikwilligen Arbeiter*in empfiehlt, die Geschäftsleitung darüber zu informieren, was zur sofortigen Entlassung der Person führt, ist kriminell, da sie die besten aktivistischen Arbeiter*innen aus den Fabriken holt, obwohl sie dort bleiben sollten, um die anderen Arbeiter*innen zu organisieren. Die Arbeiter*innenbewegung darf nicht in diese Falle tappen. Stattdessen sollten linke Kräfte den belarussischen Demonstrant*innen eine sozialistische Alternative zu den gescheiterten Taktiken der Liberalen und des Kapitalismus anbieten und alles tun, um die unabhängige Organisation der Betriebe zu unterstützen.
Unglücklicherweise ist die belarussische Linke sehr schwach, und ihre Position ist falsch. Anarchist*innen aus der Gruppe „Pramen“ hängen den Liberalen unkritisch an den Fersen mit dem Argument „zuerst werden wir Lukaschenko entfernen und erst dann werden wir anfangen, die linke Agenda zu den Massen zu bringen“. Andere, wie Pawel Katarzewski, ein Führer der Partei „Gerechte Welt“, die sich als linke Sozialdemokratie präsentiert, kapitulierten Anfang September, als die Bewegung auf ihrem Höhepunkt war, einfach aus Untätigkeit. Stalinist*innen und Neomarxist*innen aus den verschiedenen „marxistischen Kreisen“ kapitulierten feige vor dieser Massenbewegung, mit kindischen, ultralinken Ausreden wie „die Linke sollte sich nicht beteiligen, weil die Liberalen die Führung des Protestes übernommen haben“.
Die Aufgabe von Sozialist*innen in solchen Situationen ist es, dafür zu streiten, dass die Arbeiter*innen die Notwendigkeit der Selbstorganisation erkennen und die führende Rolle im Protest übernehmen. Nur die Selbstorganisation der Arbeiter*innen kann uns befähigen, den Kapitalismus zu besiegen, und nur sie kann die Einführung der fortschrittlichsten Form der Demokratie sicherstellen.
Wir müssen den sektiererischen Fehler vermeiden, zu denken, dass die Arbeiter*innen nur in den großen Fabriken sind. Neue Teile der Gesellschaft haben sich der Arbeiter*innenklasse angeschlossen. Arbeiter*innen im Gesundheitswesen haben sich an die Spitze des Kampfes gestellt, Studierende haben sich organisiert, um ihre Solidarität mit der Arbeiter*innenklasse auszudrücken. Arbeiter*innen im Transport- und Informationssektor haben die Fähigkeit, die Wirtschaft effektiv zu stoppen, wenn sie organisiert sind.
Gleichzeitig wird oft über die belarussischen Proteste gesagt, dass sie ein „weibliches Gesicht“ haben: Jeden Samstag gab es die Frauenmärsche. Wir sollten nicht vergessen, dass der größte Teil der Arbeiter*innenklasse Frauen sind. Der Prozentsatz der arbeitenden Frauen in Belarus sowie der Frauen mit Zweitjobs ist höher als in Russland oder der Ukraine, während Frauen heute niedrigere Löhne haben als Männer. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um die maximale Einheit der Arbeiter*innenklasse zu gewährleisten, indem wir sicherstellen, dass diese Themen im Kampf aufgegriffen werden.
Die Aufgabe von Sozialist*innen in der kommenden Periode ist es, das Verständnis für unser sozialistisches und revolutionäres politisches Programm in die Arbeiter*innenklasse zu tragen. Wir müssen die Forderungen nach der vollständigen Demontage der Lukaschenko-Diktatur aufgreifen, mit einem Übergang zur Arbeiterdemokratie auf der Grundlage einer Planung der Wirtschaft zur Verbesserung der Lebensbedingungen, und die Forderung, dass alle Fabriken und Großbetriebe im Land unter die Kontrolle und Leitung von Arbeiter*innenorganisationen gestellt werden.
Die strategische Aufgabe der gegenwärtigen Periode in Belarus, einer Periode der Agitation, Propaganda und Organisation, besteht nach den Worten von Leo Trotzki „in der Überwindung des Widerspruchs zwischen der Reife der objektiven Bedingungen für die Revolution und der Unreife des Proletariats und seiner Avantgarde (der Verwirrung und Frustration der älteren Generation, der Unerfahrenheit der jüngeren). Wir müssen den Massen im Prozess ihres täglichen Kampfes helfen, eine Brücke zwischen ihren gegenwärtigen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution zu finden. Diese Brücke muss ein System von Übergangsforderungen umfassen, die von den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewusstsein der breiten Schichten der Arbeiterklasse ausgehen und immer zu demselben Ergebnis führen: die Eroberung der Macht durch das Proletariat.“
Daraus folgt ein Verständnis für die Herausforderungen, vor denen wir als revolutionäre Sozialist*innen in der vor uns liegenden Periode stehen, in der die Protestbewegung wahrscheinlich nicht ihren früheren Höhepunkt der Aktivität erreichen wird, und die daher die Gelegenheit bietet, die nächste Phase vorzubereiten. In der Tat ist es umso besser, je mehr Zeit für die Vorbereitung zur Verfügung steht. Doch je mehr die globale Krise die Welt erfasst, desto dringlicher werden die Aufgaben werden.
Vielleicht stehen die revolutionären Sozialist*innen in Belarus mehr als in jedem anderen Land vor einer „doppelten Herausforderung“. Wir müssen eine Arbeiter*innenbewegung aufbauen, und gleichzeitig eine revolutionäre politische Organisation, eine Partei.
Wir müssen die Organisation von Streikkomitees und kämpfenden Gewerkschaften in den Betrieben unterstützen, damit die Arbeitskollektive unabhängig von den liberalen Oppositionseliten organisiert werden, die immer versuchen, die Interessen der Arbeiter*innen ihren eigenen unterzuordnen.
In dem Maße wie sich dieser Prozess entwickelt, und unter den Hammerschlägen der Ereignisse könnte das schnell geschehen, wird das Klassenbewusstsein wachsen, das Bewusstsein, wie die Arbeiter*innenklasse vom Kapitalismus ausgebeutet wird. Es ist notwendig, unser Programm offen und direkt zu diesen Kollektiven zu tragen, indem wir einen Übergangsansatz verwenden, die Klasseninteressen der liberalen Elite entlarven und sicherstellen, dass die Arbeiter*innenklasse ein politisches, ein sozialistisches Programm hat, das in der Lage ist, die Gesellschaft voranzubringen, wenn der Diktator vertrieben und der Kapitalismus gestürzt wird.
Gleichzeitig müssen wir uns vor allem darauf konzentrieren, Menschen aus jenen Schichten der Arbeiter*innenklasse und des Proletariats, vor allem die Jugend, zu gewinnen, die an vorderster Front des Kampfes gegen das Regime und das System des Kapitalismus selbst stehen, wie diejenigen, die unter fortschrittlichen Forderungen an den Protesten, an Streiks, an Stadtteilversammlungen teilnehmen. Wir tun dies mit dem Ziel, eine kaderbasierte revolutionäre sozialistische Organisation aufzubauen, die unabhängig von den Eliten ist und die in der Lage sein wird, zukünftige Bewegungen mit einer Strategie und einem revolutionären sozialistischen Programm zu bewaffnen, das den Sieg sicherstellen kann.
Im Moment klingen die Proteste ab, aber die Wut der belarussischen Bevölkerung auf das Regime ist nicht verschwunden. Die Teilnahme an den regelmäßigen Demonstrationen ist riskanter geworden, da die Repression verstärkt und die Aufmärsche kleiner geworden sind – eine offene politische Intervention ist bei diesen Aktivitäten nicht mehr möglich. Deshalb ist es notwendig, die Arbeit vorübergehend an die Arbeitsplätze zu verlagern, mit den protestierenden Arbeitskollektiven in Kontakt zu treten und einen Dialog mit ihnen zu führen.
Während wir das tun, werden wir uns auf die Aufgaben des Parteiaufbaus konzentrieren, neue Leute anziehen, ein politisches (theoretisches und aktuelles) Verständnis kultivieren, unsere Kader entwickeln, die mit einer Perspektive, einem Programm und Forderungen bewaffnet sind, bereit, energisch zu intervenieren, wenn sich die nächste Phase dieser Bewegung unvermeidlich entwickelt.