Die Großindustrie und die Rechte in Seattle haben viele Gründe, die sozialistische Stadträtin Kshama Sawant zu hassen. In ihrer achtjährigen Amtszeit schaffte sie gemeinsam mit Socialist Alternative und der Arbeiter*innenklasse das, was die Demokrat*innen ab und zu versprechen aber nie liefern: Den ersten 15-Dollar-Mindestlohn in den ganzen USA, ein Verbot des Einsatzes von Tränengas und anderer Chemiewaffen bei der örtlichen Polizei und eine Unternehmensteuer, die „Amazon Tax“, um den Ausbau von kommunalen Sozialwohnungen zu finanzieren.
von Nikolas Friedrich, München
Großkonzerne wie Amazon (mit Hauptsitz in Seattle) haben schon mehrfach versucht, Kshama und ihre kämpferische Politik loszuwerden. Sie schafften durch eine Gegenkampagne mit Lobbyismus und Propaganda, die geplante Einführung der „Amazon Tax“ zu stoppen, aber die Bewegung erkämpfte eine zweite, höhere Steuer, die tatsächlich umgesetzt wurde. Bei den letzten beiden Kommunalwahlen traten Mitglieder der Demokratischen Partei gegen Kshama an, um das Mandat für die Kapitalistenklasse zurückzugewinnen, scheiterten aber.
Jetzt greifen sie direkt an. Ein Unternehmer stellte 2020 einen Abwahlantrag. Kshama wird unter anderem „Amtsmissbrauch“ vorgeworfen, weil sie im letzten Sommer das Rathaus für Black-Lives-Matter Demonstrierende aufgeschlossen hat. Dass so eine Tat Amtsmissbrauch sei, wurde vom Antragsteller nicht direkt bewiesen. Trotzdem genehmigte der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates Washington den Abwahlantrag, da nach Meinung des Gerichts kein Beweis erforderlich wäre.
Der gleiche Oberste Gerichtshof urteilte einstimmig, dass ein Abwahlantrag gegen die Bürgermeisterin von Seattle wegen Polizeigewalt gegen Black-Lives-Matter-Proteste unbegründet sei. Das zeigt, dass die Justiz, wie andere Teile des Staatsapparates, nicht neutral ist, sondern durch ihre Struktur und Funktion in erster Linie den Klasseninteressen der Herrschenden dient.
Wie bei vorherigen Schlägen gegen Kshama und die Linke in Seattle wird die Abwahlkampagne von den reichsten Bürger*innen der Stadt getragen. Martin Selig, Milliardär und Trump-Republikaner, unterstützt die Kampagne offen, und eine Reihe von Geschäftsführer*innen und Investment-Banker*innen haben gespendet. Bürgerliche Medien wie die Seattle Times setzen die BLM-Proteste vor dem Haus der Bürgermeisterin, die Kshama mitorganisiert hat, mit rechtsextremen Mobs gleich.
Daher setzen linke Kräfte gerade alle Ressourcen ein, um eine Massenbewegung gegen die Abwahl aufzubauen. Socialist Alternative gründete die „Kshama Solidarity Campaign“, um für diese historische Herausforderung Kräfte zu sammeln und zu organisieren. Es geht nicht nur um ein Mandat oder eine Stadträtin. Es geht darum, die Errungenschaften der letzten acht Jahre zu verteidigen.
Gewerkschaften verschiedener Branchen haben bereits ihre Unterstützung für die Kshama Solidarity Campaign erklärt. Zusätzlich sammeln sich linke Abgeordnete der Democratic Socialists of America und prominente linke Persönlichkeiten um die Kampagne.
Kshamas politische Arbeit über mehreren Jahren und die Solidaritätskampagne zeigen beispielhaft, wie Linke Mandate und Parlamentssitze nutzen sollten. Der Staat bleibt letztendlich ein Instrument zugunsten der kapitalistischen Klassengesellschaft, einer Klassengesellschaft, die wir als Sozialist*innen beseitigen wollen. Daher ist es von größter Bedeutung, Bewegungen nicht nur eine Stimme im Stadtrat und Parlament zu geben, sondern auch sie zu initiieren und zu stärken. Dadurch können wir nicht nur Opposition sein, sondern den Herrschenden auch Zugeständnisse abringen.
Redebeitrag von Kshama Sawant bei einer Kundgebung gegen den Absetzungsversuch
Der „Washington State Supreme Court“ (Oberster Gerichtshof des US-Bundesstaats Washington) hat grünes Licht gegeben für die rechtsgerichtete und von Milliardär*innen unterstützte Kampagne zur Absetzung von Kshama Sawant. Sawant gehört als Sozialistin dem Stadtrat von Seattle an. Am Samstag, den 3. April, kamen 200 Personen im Cal Anderson Park zu einer Kundgebung mit Sicherheitsabstand zusammen, die per Livestream ins ganze Land übertragen wurde. Die Menschen wollen den Angriff auf unsere Bewegung nicht widerstandslos hinnehmen.
von Kshama Sawant (Socialist Alternative, Sektion der ISA in den USA)
07.04.2021
Dieses Gerichtsurteil ist vollkommen ungerechtfertigt, überrascht sind wir dennoch nicht. Die arbeitenden Menschen und die Menschen aus den unterdrückten Communities wissen, dass wir uns weder auf die kapitalistischen Gerichte verlassen können, wenn wir Gerechtigkeit verlangen, noch auf die Polizei.
Viele arbeitende Menschen mussten dies im vergangen Sommer am eigenen Leib erleben, als in Seattle und überall sonst in den USA friedliche Proteste gegen das brutale Vorgehen der Polizei auf eben diese rassistisch motivierte Polizeigewalt trafen. Die Polizei und das Polit-Establishment müssen noch dafür zur Rechenschaft gezogen werden, dass über 14.000 Demonstrationsteilnehmer*innen in Gewahrsam genommen worden sind.
Eine von ihnen bin natürlich auch ich gewesen. Und es ist kein Zufall, dass zwei der drei Anklagepunkte, die der Supreme Court nun gegen mich aufrecht erhält, mit meiner Teilnahme in Solidarität mit der „Black Lives Matter“-Bewegung zu tun haben.
Im Oktober hat der „Washington State Supreme Court“ die Initiative von unten zur Absetzung der Amazon-Bürgermeisterin Jenny Durkan von den Demokraten einstimmig abgewiesen, obwohl sie für das harte Vorgehen der Polizei gegen Demonstrationsteilnehmer*innen in Seattle verantwortlich ist. Die Polizei von Seattle hat unter Durkan neben anderen gefährlichen Waffen während einer Atemwegs-Pandemie, auch Tränengas eingesetzt. Tränengas greift die Lungen an, verursacht Hautreizungen und verletzt die Augen. Der Einsatz von Tränengas hat das Potential die Verbreitung des Coronavirus noch zu verstärken und bei Personen mit Asthma oder Atemwegserkrankungen für Langzeitfolgen zu sorgen. Behörden, die – wie im Falle von Durkan – von den Demokraten geführt werden, haben wochenlang noch auf Tränengas zurückgegriffen, obwohl Mediziner*innen und Expert*innen aus dem öffentlichen Gesundheitswesen wiederholt öffentlich appelliert haben, gerade angesichts des grassierenden Coronavirus auf den Einsatz zu verzichten.
Unterdessen hat der Supreme Court einstimmig erklärt, dass die Zielrichtung des Absetzungsersuchens und der Bezug auf den Einsatz von Tränengas tatsächlich für eine – Zitat – “politische Meinungsverschiedenheit” mit Durkan steht und daher nicht ausreiche. Kurzgefasst: Der Fall wurde abgewiesen.
Und jetzt hat das Supreme Court ebenfalls einstimmig die Rechtmäßigkeit des Absetzungsverfahrens gegen die einzige gewählte Sozialistin von Seattle bestätigt, weil wir in einem leeren Rathaus mit Masken eine einstündige „Black Lives Matter“-Kundgebung abgehalten haben. Der wahre Grund hinter der Entscheidung des Supreme Court, sich hinter dieses Verfahren zu stellen, ist in hohem Maße politisch: Es handelt sich um einen Angriff auf unser Mandat, weil wir uneingeschränkt an der Seite der „Black Lives Matter“-Bewegung stehen. Die Ironie, die einem die Sprache verschlägt, besteht darin, dass ich eine von Tausenden gewesen bin, die von Durkans Polizei mit Tränengas malträtiert worden sind.
Der Supreme Court hat eine ganze Reihe von Anträgen auf Absetzungsverfahren abgewiesen, die sich gegen Politiker*innen des Establishments richten. Darunter war auch der Fall des Sheriffs von Thurston County, John Snaza, der sich gegen Coronamaßnahmen gestellt hat. Sheriff Snaza hat es abgelehnt, seinen Mitarbeiter*innen das Tragen von Gesichtsmasken zuzugestehen – und das inmitten dieser unvergleichbaren Pandemie, wodurch die „einfachen“ Leute einer noch größeren Gefahr ausgesetzt werden als ohnehin schon, wenn sie es mit der Polizei zu tun bekommen.
Das Ausmaß der auf sämtlichen Ebenen herrschenden Heuchelei ist kaum noch zu toppen. Diese Entscheidung über das gegen unser sozialistisches Stadtratsbüro gerichtete Absetzungsverfahren könnte politischer kaum sein. Sie stellt eine unverhohlene Attacke auf die arbeitenden Menschen, soziale Bewegungen und letzten Endes auf das Grundrecht dar, Protest üben zu dürfen. Diese Entscheidung kriminalisiert den Protest und schafft damit einen extrem gefährlichen Präzedenzfall.
Der dritte Anklagepunkt betrifft natürlich meine Unterstützung für die „Tax Amazon“-Bewegung. Dieser Vorwurf ist mehr als eine Farce. Mir wird vorgeworfen, öffentliche Gelder in die Kampagne „Eine Steuer für Amazon und Großkonzerne“ gesteckt zu haben, weil sie Monate später zu einer Kampagne wurde, die für ein Referendum in Frage gekommen wäre? Mit anderen Worten: Man wirft mir vor, öffentliche Mittel für eine nicht existente Initiative für ein Referendum einzusetzen? Und letztlich eine Kampagne, die am Ende noch nicht einmal mehr auf ein Referendum hinauslaufen musste?
Das ist ein weiterer gefährlicher Präzedenzfall: Wie können gewählte politische Vertreter*innen der Arbeiter*innenklasse ihr Amt nutzen, um sich für progressive Dinge einzusetzen? Alle möglichen progressiven Themen können in der Zukunft irgendwann einmal zu einer Initiative für ein Referendum werden! Diese verschrobene Logik entbehrt jeder Grundlage. Es sei denn, wir ziehen in Betracht, dass die wirkliche Intention solch lächerlicher Vorwürfe darin besteht, abschreckende Wirkung auszuüben: Wenn arbeitende Menschen und Bewegungen es wagen, Vertreter*innen in Ämter zu wählen, die dann zur Durchsetzung ihrer Interessen arbeiten, dann wird sich die herrschende Klasse rücksichtslos rächen.
Dass diese gerichtliche Entscheidung ausgerechnet am 1. April verkündet worden ist, passt insofern, als dass damit jede Form von Recht und Gerechtigkeit ins Lächerliche gezogen wird.
Aber es stimmt schon: Die Annahme, dass arbeitende Menschen, People of Color, Frauen und die in Armut lebenden Menschen vor Gericht ein faires Verfahren erwarten dürfen, ist im Kapitalismus nichts anderes als ein schlechter Witz.
In den letzten Monaten habe ich mit sehr vielen „einfachen“ arbeitenden Leuten gesprochen, die nicht glauben wollten, dass der „Washington Supreme Court“ zu einer solch ungerechten Entscheidung in der Lage ist. Aber wie für alle Institutionen im Kapitalismus gilt auch für die
Gerichte, dass ihr grundlegender Zweck darin besteht, im Interesse derer zu agieren, die Geld und Macht haben, und gegen diejenigen, die nur wenig oder gar nichts besitzen.
Das Gesetz des Bundesstaates Washington, in dem das Prozedere zu Absetzungungsverfahren geregelt ist, ist an sich schon zutiefst undemokratisch, und es wird ungleich angewendet. Wenn man gegen Vertreter*innen der arbeitenden Menschen vorgehen will, dann ist es dafür gut geeignet. Das liegt auch daran, dass die vorgebrachten Anschuldigungen noch nicht einmal mit Beweisen belegt sein müssen. Und mir wird keine Möglichkeit zugestanden, mich vor Gericht gegen die falschen Vorwürfe verteidigen zu können. Damit sagt man uns, dass die Wahrheit keine Rolle spielt.
Dies gibt den Gerichten des Bundesstaats Washington enorme Spielräume, um Absetzungsverfahren als Verteidigungsmechanismus der herrschenden Klasse und des kapitalistischen Systems zu nutzen. Einem Absetzungsverfahren gegen Linke wird grünes Licht gegeben und gleichzeitig werden Anschuldigungen gegen Politiker*innen des Establishments abgewiesen. Es ist kein Zufall, dass Anna Louise Strong, die letzte Sozialistin, die in Seattle in ein Amt gewählt worden ist, 1919 ebenfalls durch ein solches Verfahren abgesetzt wurde. Ihr hatte man zur Last gelegt, Kontakte zur Arbeiter*innenbewegung zu haben und der Opposition gegen den Ersten Weltkrieg anzugehören.
Im Kapitalismus werden die Gesetze von und für die Elite geschrieben, nicht für uns.
Der Genozid an den Ureinwohner*innen und der Raub ihres Landes war rechtlich legitimiert. Die bluttriefende Institution der Sklaverei in Amerika beruhte damals auf dem Gesetz zu den Grund- und Bodenverhältnissen und auf den Gesetzen zur „Rassentrennung“ (im Original: „Jim Crow segregation“, Anm. d. Übers.). Die Lynch-Morde, mit denen die „Rassentrennung“ durchgesetzt wurde, galten zwar rein formal-juristisch nicht als legal, doch gab es kein Gericht, das die Lynchenden strafrechtlich verurteilt hätte.
Dort, wo sich heute der Bundesstaat Washington befindet, wurde der ursprünglichen Bevölkerung das Jagd- und Fischereirecht zugesprochen, um sie zur Unterschrift unter Verträge zu bewegen, welche sie buchstäblich mit der Pistole auf der Brust akzeptieren mussten. Anschließend wurden diese Verträge dann im Großen und Ganzen geleugnet. Oft wurden etwaige Ansprüche mit Verweis auf die Rechtsmechanismen verweigert. So wurde z.B. behauptet, dass man nur dann Fischereirechte geltend machen könne, wenn man die amerikanische Staatsbürgerschaft habe. Die amerikanische Staatsbürgerschaft wurde den Ureinwohner*innen aber ebenfalls verwehrt. Und das in dem Land, in dem sie schon seit Jahrtausenden gelebt hatten.
In der Zeit der Bürgerrechtsbewegung sind dann diejenigen wieder und wieder eingesperrt worden, die für die Freiheit der People of Color gekämpft haben. Führende Vertreter*innen des Ku Klux Klan, Polizeikräfte, die sich des Mordes schuldig gemacht haben, und die Agent*innen des Staates, die Mitglieder der „Black Panthers“ umgebracht haben, blieben hingegen auf freiem Fuß. Damals war es üblich, dass der Staat mit Gewalt gegen Gewerkschaftsaktivist*innen und Sozialist*innen vorging. Das ging bis hin zu brutalen Morden.
Keines dieser Beispiel kommt aus grauer Vorzeit. Sie alle stehen für die Normalität im US-amerikanischen Kapitalismus.
Heute sind die Großkonzerne wie auch die politische Rechten angesichts der Auswirkungen, die sozialistische Politik und soziale Bewegungen in Seattle zeigen, außer sich vor Wut. Was ihnen vor allem zuwider ist, ist, dass wir den arbeitenden Menschen im ganzen Land mit unserer Arbeit ein beispielhaftes Zeichen gesendet haben. Nachdem ihr Versuch gescheitert ist, 2019 die Stadtratswahlen von Seattle zu erkaufen, wollen die Milliardär*innen es nun noch einmal wissen. Nun wollen sie die wirklich historischen Erfolge, an deren Spitze unser Büro steht, wieder umkehren: die Amazon-Steuer, mit der der soziale Wohnungsbau finanziert werden soll, den Mindestlohn von 15 Dollar und den „Green New Deal“, das Verbot des Einsatzes von Waffen gegen friedliche Demonstrant*innen, das in den USA zuerst in Seattle erkämpft worden ist, und bahnbrechende Rechte für Mieter*innen wie das Verbot von Zwangsräumungen in den Wintermonaten und unser Erfolg vom Montag dieser Woche, wonach alle von Zwangsräumung Betroffenen nun das Recht auf Rechtsbeistand haben.
Und dann gibt es da noch eine weitere Wahl, die sich Amazon und Jeff Bezos erkaufen wollen: die Wahl eines Betriebsrats bei den Beschäftigten am Standort in Bessemer, Alabama. Wenn die mutigen Anstrengungen der Kolleg*innen in Alabama nämlich von Erfolg gekrönt werden, dann kann das dazu führen, dass auch an anderen Amazon-Standorten neuer Schwung in die Sache kommt und sich die Kolleg*innen im ganzen Land zu organisieren beginnen. Mitglieder der Socialist Alternative, der Organisation, der ich angehöre, sind gerade jetzt in Alabama, um alles dafür zu tun, was uns möglich ist, um die gewerkschaftlichen Aktionen zu unterstützen.
In jeglicher Hinsicht ist die Absetzungskampagne gegen mich zutiefst undemokratisch. Der Cheforganisator dieser Kampagne hat gestern erst gesagt, dass sie aufgrund der hohen Wahlbeteiligung keine Neuwahl am selben Tag wie andere Wahlen wollen. Stattdessen wünschen sie sich eine Sonderabstimmung mit niedriger Beteiligung, an der vor allem wohlhabende Wahlberechtigte teilnehmen. Daraus machen sie keinen Hehl.
Unser sozialistisches Ratsbüro hat nie dagewesene Siege für arbeitende Menschen erkämpft. Und wir haben – noch wichtiger – Bewegungen aufgebaut und arbeitende Menschen sowie Menschen aus abgehängten Communities bemächtigt, die Grundlage für künftige Bewegungen zu schaffen.
Trotz aller Lügen und immenser Summen an Geld, die die Konzerne gegen uns ins Spiel gebracht haben, bin ich durch Wahlen drei Mal im Amt bestätigt worden. Deshalb sind sie nun dazu übergegangen, eine der heftigsten Attacken gegen Linke in den USA auszuüben, die es seit Jahrzehnten gegeben hat. Aber das ist das kapitalistische System, und es liegt genau daran, dass die herrschende Klasse so wild entschlossen ist, mich aus dem Stadtrat von Seattle zu bekommen, weil sie wissen, dass mein Stadtratsbüro und ich uns für die arbeitenden Menschen einsetzen. Denn die Interessen der Kolleg*innen stehen der Gier der Reichen im Wege. Die Absetzungskampagne gegen mich ist ein Signal, dass die herrschende Klasse in tiefer Sorge darüber ist, dass friedliche Proteste und Aktionen in den Betrieben weiter zunehmen. Das ist so sicher wie die nächsten Krisen, von denen der Kapitalismus in immer heftigerem Maße gebeutelt sein wird.
Wir müssen uns wehren. Wir werden weiterhin jede Möglichkeit nutzen, um mit unserem Stadtratsbüro für die arbeitenden Menschen zu kämpfen.
Mieter*innen sehen sich einem regelrechten Tsunami an Zwangsräumungen ausgesetzt. Wir kämpfen für eine gerechte Einzelfallprüfung für alle Mieter*innen und dafür, dass Familien mit schulpflichtigen Kindern, Schulpersonal, Erzieher*innen und Kinderbetreuer*innen von Zwangsräumungen ausgeschlossen werden. Wir kämpfen für einheitliche Mietbedingungen und dafür, dass es keine Bonitätsprüfungen gibt. Bei unserem Kampf für eine Mietobergrenze für alle Hausbewohner*innen in Seattle legen wir noch eine Schippe drauf. Um die durch die Coronakrise angehäuften Schulden zu streichen (auch die Miet- und Hypothekenschulden), sollen die Großbanken und Wohnungsunternehmen zur Kasse gebeten werden, nicht die arbeitenden Menschen. Und wir kämpfen für einen sozialistischen Green New Deal mit tarifgebundenen neuen Arbeitsplätzen, was durch eine Ausweitung der Amazon-Steuer finanziert werden muss.
Um mit alldem erfolgreich sein zu können, muss uns klar sein, wer auf unserer Seite steht und wer nicht. Wir dürfen keine Illusionen in die Arbeitgeber*innen haben oder in ihre Helfershelfer*innen in der Politik. Was wir uns nicht erlauben können, ist, naiv anzunehmen, dass wir mit prokapitalistischen Politiker*innen der beiden Parteien zu Einigungen kommen können. Auch dürfen wir nicht davon ausgehen, dass wir die Demokraten mit vernünftigen Argumenten überzeugen könnten.
Es war kein Zufall, dass es für das Establishment der Demokraten unmöglich wurde, uns zu ignorieren, nachdem unsere Bewegung für den 15-Dollar-Mindestlohn überwältigende Unterstützung aus der Stadtbevölkerung bekommen hat. Ed Murray von den Demokraten, der damalige Bürgermeister von Seattle, setzte flugs einen Ausschuss ein, der zur Hälfte aus Konzernvertreter*innen bestand. Das Ziel war die Mindestlohn-Erhöhung auf elf oder zwölf Dollar die Stunde nach unten zu „korrigieren“ und alle möglichen Schlupflöcher für Unternehmen einzubauen. Wir haben nur deshalb gesiegt, weil wir die „15 Now!“-Bewegung aufgebaut hatten.
Es war auch kein Zufall, dass progressive Demokraten letztes Jahr, nachdem unsere Bewegung zur Einführung der Amazon-Steuer für nicht mehr aufzuhaltende Zustände gesorgt hatte, dem sogenannten „Third Door“-Bündnis beigetreten sind. Es handelt sich dabei um einen von Konzernen unterstützten Plan. Und dann, als sie gezwungen waren, den Erfolg der Kampagne für die Amazon-Steuer anzuerkennen, haben sie den Konzernvertreter*innen und nicht der „Tax Amazon!“-Bewegung ihren Dank ausgesprochen. Wir können es uns nicht leisten, das Maß an Hingabe zu unterschätzen, mit dem sich diese viel zitierten „progressiven Demokrat*innen“ den Interessen der herrschenden Klasse verschrieben haben.
Der Verlauf der Ereignisse hat gezeigt, dass es nicht ausreicht, wenn man z.B. die 15-Dollar-Mindestlohn-Forderung nur auf Twitter unterstützt oder Republikaner*innen kritisiert oder „Medicare for All“ nur mit symbolischer Wirkung eingeführt wird. Dadurch werden keine grundlegenden Probleme gelöst.
Im Kongress geht es nicht nur darum, das ein oder andere Gesetz einzuführen. Was wir brauchen, ist eine ernstgemeinte Strategie, mit der wir tatsächlich zu Erfolgen kommen, indem wir Millionen von arbeitenden Menschen und Gewerkschafter*innen mobilisieren und uns darauf vorbereiten, auch gegen die Führung der Demokratischen Partei aufzustehen.
Wir werden zum Beispiel erläutern müssen, dass der Grund, weshalb die Abgeordnetengruppe, die als „The Squad“ bekannt ist (linke „Demokrat*innen“; Anm. d. Übers.) es akzeptiert hat, dass der 15-Dollar-Mindestlohn wieder aus dem Konjunkturprogramm von Biden verschwunden ist. Das liegt nicht daran, dass sie eine übergeordnete Strategie verfolgen, sondern daran, dass sie Angst davor haben, mit Biden und Pelosi aneinander zu geraten.
Viele progressive Politiker*innen wollen arbeitenden Menschen glauben machen, dass Wandel auch harmonisch vonstatten gehen kann. Aber das ist schlichtweg nicht möglich. Und am Ende führt dieser Ansatz zur Kapitulation. Stattdessen gilt: Wenn man in der eigenen Amtszeit nicht auf den erbitterten Widerstand des Establishment stößt und sich die eigene Wiederwahl als Kinderspiel herausstellt, dann ist das ein Zeichen dafür, dass man versagt hat, den arbeitenden Menschen gerecht zu werden. Denn die herrschende Klasse sieht dich dann nicht als Bedrohung.
Der große irische Sozialist James Connolly hat einmal gesagt: „Die Rolle eines Sozialisten in einem gewählten Amt besteht darin, den politischen Frieden zu stören“. Der Grund dafür ist nicht, dass Sozialist*innen persönlich so sehr darauf aus sind, Konflikte zu führen. Der Grund dafür ist, dass die ganze Maschinerie des Kapitalismus darauf ausgelegt ist, Arbeiter*innen zu schaden – und es gibt keine Möglichkeit, dagegen anzugehen und gleichzeitig Teil ihres Vereins zu sein. Deshalb brauchen wir dringend eine neue Partei für die arbeitenden Menschen und die Unterdrückten. Anstatt sich der sinnlosen Aufgabe zu widmen, prokapitalistische Demokraten zu organisieren – wie von manche vorgeschlagen – müssen wir gemeinsam mit anderen Sozialist*innen und Vertreter*innen der Arbeiter*innenklasse eine Kraft von unten organisieren, um das Fundament für den zukünftigen Klassenkampf zu legen.
Die Beschäftigten in Bessemer müssen sich auch dauernd die Frage stellen lassen, warum wir uns nicht einfach arrangieren können, und anhören, dass Amazon doch eine große Familie ist. Den Arbeiter*innen wird erzählt, die Gewerkschaft würde den Frieden stören und in Wirklichkeit sei sie nur hinter den Mitgliedsbeiträgen her. Überall dort, wo wir auf sie treffen, müssen wir gemeinsam gegen diese reaktionären und unredlichen Ansichten kämpfen.
Und wir müssen noch weiter gehen. Wir brauchen nicht nur Gewerkschaften in sämtlichen Amazon-Niederlassungen, wir müssen diese Standorte auch in demokratisch verwaltetes öffentliches Eigentum überführen. Wenn wir für Arbeitnehmer*innenrechte kämpfen, dann müssen wir ganz oben auf unserer Liste auch immer sagen, dass dieses System nicht für uns gemacht worden ist und dass wir eine Alternative zu diesem brutalen, rassistischen, sexistischen System namens Kapitalismus brauchen. Ein System, das jetzt – im reichsten Land der Welt – Amazon-Beschäftigte mit Videokameras überwachen lässt und sie zwingt, in Flaschen zu urinieren. Wir brauchen eine ganz andere Art von Gesellschaft. Wir müssen für eine Gesellschaft kämpfen, die auf Solidarität, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit basiert. Wir müssen für eine sozialistische Welt kämpfen.
Bild: Seattle City Council from Seattle, CC BY 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by/2.0, via Wikimedia Commons