Die Veränderungen, die die Corona-Pandemie mit sich gebracht hat, haben Vieles offengelegt, was im normalen Alltag selten sichtbar wurde, zum Beispiel, wer die „systemrelevante Arbeit“ leistet. Aber auch Tatsachen über die Geschlechterverhältnisse in unserer Gesellschaft werden deutlich.
Von Ianka Pigors, Hamburg
Aus der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wissen wir, dass Männer häufiger Opfer und Täter von Gewaltdelikten sind als Frauen. Auch wenn schwere Gewaltkriminalität in Deutschland eher rückläufig ist hat sich daran wenig geändert. Noch immer vermittelt unsere Gesellschaft Jungen und Männern, dass Dominanz und Aggressivität etwas Positives ist, während Mädchen und Frauen sich eher passiv und defensiv verhalten sollen. Das führt u.a. dazu, dass Männer, ob sie wollen oder nicht, häufiger in körperliche Auseinandersetzungen verwickelt werden, als Frauen.
Bei Tötungsdelikten ist das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Opfern regelmäßig etwa 65 zu 35%, bei Körperverletzungen 60 zu 40%. Anders bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung: Hier sind regelmäßig über 90 % der Opfer weiblich.
Kein sicherer Ort
Der großen Mehrheit der Jungen und Männer wird aber auch beigebracht, dass es unangemessen ist, die eigene Position in der sozialen Rangordnung öffentlich mit körperlicher Gewalt zu verteidigen. Schließlich gehen Macht, Geld und Einfluss in einer modernen Gesellschaft selten mit körperlicher Überlegenheit einher. Viele Gewaltdelikte werden deshalb von Männern begangen, die sich als Jugendliche oder wegen einer von vornherein benachteiligten sozialen Stellung (noch) keine Sorgen um ihr gesellschaftliches Ansehen machen müssen. Schlägereien auf medizinischen Kongressen, in Großraumbüros oder Betriebskantinen sind eher unüblich.
Mehr Gewalt und weniger Anzeigen
Leider greift diese „Benimmregel“ nicht so gut, wenn im privaten Bereich die soziale Kontrolle fehlt. Unabhängig von Gesellschaftsschicht, Bildungsstand und kulturellem Hintergrund üben Männer körperliche und psychische Gewalt gegen Frauen aus, um ihre Stellung als „Herr im Hause“ zu dokumentieren. Bei Mord, Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge innerhalb einer Partnerschaft ist das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Opfern 40 zu 60, bei Körperverletzungen liegt der Anteil der weiblichen Opfer sogar bei etwa 70%. Auch bei sexuellen Übergriffen, die sich ohnehin überwiegend gegen Frauen richten, ist der weibliche Opferanteil in Partnerschaften mit über 95 % höher als im Durchschnitt. Sexualisierte Gewalt und Belästigung in der Öffentlichkeit sind ein großes Problem – dennoch lauert die größte Gefahr für Frauen* in ihren eigenen vier Wänden.
Im Lockdown nahm die Zahl der gemeldeten nicht tödlichen Gewalt- und Sexualdelikte insgesamt ab. Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens reduzieren die Gewalt in der Öffentlichkeit. Die Körperverletzungen in Partnerschaften nahmen allerdings gleichzeitig um 6 % zu, sexuelle Übergriffe in Partnerschaften um fast 10 % zwischen 2019 und 2020.
Die Dunkelziffer ist allerdings sehr hoch. Wer mit einem gewalttätigen Partner im Homeoffice oder auf Kurzarbeit-Null zuhause eingesperrt ist, hat weniger Möglichkeiten, eine Anzeige zu erstatten. Zahlreiche Frauenhäuser und Beratungsstellen berichteten, dass im „harten Lockdown“ Anfang 2020 ihre Notruftelefone geradezu still standen, bevor im Sommer eine Flut von Hilferufen hereinbrach, auf die wegen der seit langem fehlenden Ressourcen nur unzureichend reagieren konnten.
Vor diesem Hintergrund ist der Rückgang der Tötungsdelikte in Partnerschaft in der Pandemie um 16 % kein Grund zur Beruhigung. Das Risiko einer Frau, von ihren (Ex-) Partner umgebracht zu werden, ist im Moment der Trennung am höchsten. Viele der Frauen, die im Lockdown zunehmender Partnerschaftsgewalt ausgesetzt waren und sich nach Corona aus solchen Beziehungen befreien wollen, könnten dann in Lebensgefahr geraten. Wir brauchen gerade jetzt mehr selbstverwaltete Frauenhäuser, bezahlbaren, schnell und unbürokratisch verfügbaren Wohnraum und soziale Absicherung für alle Menschen, die für sich und ihre Kinder Schutz vor häuslicher Gewalt benötigen.
Foto: ROSA Österreich