Die LINKE hat sowohl in ihren früheren Hochburgen im Osten verloren als auch in den westlichen Großstädten, in denen sie seit 2009 Erfolge erzielt hatte. Die zerstrittenen Lager verbreiten jeweils ihr eigenes Narrativ, warum es zu dieser Niederlage kam. Damit positionieren sie sich für die scharfen Auseinandersetzungen, die es in den kommenden Monaten geben wird.
von Claus Ludwig, Köln
Das Lager der „Reformer*innen“ um Fraktionschef Dietmar Bartsch und Gregor Gysi, aber auch die ehemalige Vorsitzende Katja Kipping, bauen ihre Erzählung aus, dass man als zu radikal, zu uneins, zu wenig konstruktiv im Sinne des Mitmachens, Regierens und „Gestaltens“ wahrgenommen wurde.
Was setzt DIE LINKE an der Regierung durch?
Katja Kipping spricht in einem Interview mit der „Süddeutschen“ davon, dass die LINKE-Wähler*innen „nicht einfach mehr Krawall“ wollten, sondern nach einer „Durchsetzungsperspektive“ suchten. Deswegen hätte sich die LINKE konsequent zu einem Bündnis mit SPD und Grünen bekennen müssen. Darin ist eine halbe Wahrheit enthalten. Die meisten Wähler*innen – auch der LINKEN – sehen es tatsächlich als richtig an, dass eine Partei danach strebt, zu regieren und damit die eigenen Ziele zu verwirklichen. Gleichzeitig wollen die Wähler*innen nicht, dass die LINKE an der Regierung ihre Grundsätze aufgibt und so wird wie alle anderen Parteien. Davon zeugen die zahlreichen Wahl-Abstürze nach Regierungsbeteiligungen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin.
Viele Wähler*innen der LINKEN haben somit widersprüchliche Vorstellungen. Die Aufgabe einer sozialistischen Partei wäre es, diesen Widerspruch produktiv aufzulösen und eine Idee davon zu vermitteln, wie man aus der Opposition heraus Veränderungen durchsetzen kann. Kipping formuliert in dem Interview: „Die Frage der sozialökologischen Transformation steht dringend im Raum. Um soziale und ökologische Krisen zu entschärfen, braucht es auch die Machtinstrumente der Regierung. Insofern reicht ein rein rhetorisches Bekenntnis zu Regierungsverantwortung nicht.“
Doch das Sondierungspapier der Ampel ist nicht nur deswegen so wenig sozialökologisch transformierend, weil die FDP die beiden Partner*innen am Nasenring durch die Manege führt, sondern weil SPD und Grüne nicht willens sind, auch nur ihre bescheidenen Wahlprogramme umzusetzen, geschweige denn die Gesellschaft zu transformieren.
Dieses Zitat zeigt zudem, dass es den „Reformer*innen“ nicht um grundlegende Veränderungen geht. Katja Kipping möchte „Krisen … entschärfen“. Sie sieht eine linke Regierungsbeteiligung offensichtlich als Reparaturbetrieb des Systems. Nötig wäre jedoch nicht die „Entschärfung“ der Krisen, sondern deren Lösung. Gerade die Klimafrage erfordert den „system change“. Um antikapitalistische Ideen zu befördern, wäre die LINKE außerhalb der Regierungen auf Bundes- und Landesebene weit besser aufgestellt. Das mag kurzfristig Wähler*innen kosten oder neue Wähler*innen gewinnen, abhängig von der konkreten Situation. Mittelfristig ist es der einzige Weg, eine sozialistische Partei aufzubauen.
Afghanistan-Einsatz
Gregor Gysi beklagt die „Vielstimmigkeit“ und nennt als Beispiel die Differenzen bei der Abstimmung zum Bundeswehreinsatz bei der Evakuierung in Kabul. Er nutzt dies, um die Haltung der Partei zu Bundeswehr und NATO in Richtung mehr „Verantwortung“ zu verschieben. Auch Dietmar Bartsch sieht die Niederlage als Chance, seine Agenda zur Anpassung an den deutschen Imperialismus zu befördern: „Wir werden unsere außenpolitischen Positionen verbessern müssen. Gerade in der Europapolitik. Die Linke hat sich zu oft auf Parteitagen die Welt zurecht beschlossen und am Montag danach festgestellt, dass die Welt eine andere ist.“
Die LINKE hätte statt der vielstimmigen Abstimmung standhaft vermitteln müssen, dass das neue militärische Mandat für Kabul die Fortsetzung der falschen Afghanistan-Politik der etablierten Parteien bedeutet und zudem eine leere Geste ist, weil zu diesem Zeitpunkt der Abzug sich schon längst zu einem Desaster entwickelt hatte und die Bundeswehr mit militärischen Mitteln keinen einzigen Menschen retten würde. In den Monaten zuvor war es vor allem die LINKE, welche frühzeitig eine Evakuierung von gefährdeten Menschen in Afghanistan gefordert hatte.
Der Parteivorstand hatte die Position der „Reformer*innen“ berücksichtigt, die Enthaltung empfohlen und damit einen innerparteilichen Kompromiss versucht, der in einem kommunikativen Desaster endete, vor allem durch das abweichende Stimmverhalten von fünf Fraktionsmitgliedern, darunter Matthias Höhn und Klaus Ernst, die dem Einsatz zustimmten. Im Gegenzug votierten sieben Abgeordnete zu Recht gegen den Einsatz. Wäre die Partei bei ihrer klaren Linie zum Afghanistan-Einsatz geblieben und hätte nicht darauf geschielt, sich bei SPD und Grünen beliebt zu machen, sondern die eigene Position konsistent erklärt, hätte das den Shitstorm der bürgerlichen Medien nicht verhindert, aber dieser hätte besser gekontert und begrenzt werden können.
Seinen Ursprung hat die linke Afghanistan-Katastrophe im Anpassungskurs des „Reformer*innen“-Flügels, der sie jetzt nutzen will, um die antimilitaristische Haltung weiter aufzuweichen.
Der verlorene Osten
Die ehemalige Abgeordnete Sabine Zimmermann beklagt, die LINKE hätte ihre „zwei wesentlichen Kompetenzfelder verlassen“, eines davon sei die Vertretung „ostdeutscher Interessen“. Aber wie funktioniert diese – meist sehr vage formulierte – Vertretung des Ostens und was sind die Ursachen der linken Verluste in den ostdeutschen Ländern?
Der Absturz dort hat mehrere Ursachen. An einer zentralen kann die Partei nichts ändern: Die Schichten, welche die LINKE aus der SED-PDS-Tradition unterstützt haben darunter viele in „besseren“ Wohnvierteln“, weil im Verwaltungs- und Bildungsbereich tätig – sterben schlicht aus, so dass der „DDR-Bonus“seinem Ende entgegen geht. Das betrifft auch die Mitgliedschaft stark.
Diese unvermeidliche demografische Entwicklung hätte nur konterkariert werden können, wenn die Partei Lohnabhängige und Jugendliche gewonnen hätte. Haupthindernis dafür ist die politische Ausrichtung. Die Partei wird aufgrund ihrer ausgeprägten Regierungsorientierung als Teil des Establishments wahrgenommen. Dass sie in Berlin und Dresden in den 2000er Jahren an der Privatisierung von Wohnungen beteiligt war, haben ihr viele Menschen zu Recht übel genommen. Die Enttäuschten und Wütenden erreicht sie nicht.
Die „verbindende Klassenpolitik“ ist in den ostdeutschen Landesverbänden noch schwächer ausgeprägt als im Westen. Die „soziale Frage“ wurde meist passiv und nicht aktivierend aufgegriffen, die Partei hätte jedoch Aktivismus gebraucht, um zum Beispiel bei antifaschistischen Aktionen stärker präsent zu sein. Nötig wäre bundesweit, aber gerade im Osten, keine sozialstaatliche „Kümmererpartei“ im begrenzten Sinne, sondern eine kämpfende Partei, die ihre Strategie durch „kümmernde“ Aktivitäten wie Sozial- oder Mieter*innen-Beratung ergänzt.
Zimmermann fordert das Gegenteil. Die Partei hätte die Sorgen Menschen nicht ernst genommen, gerade im Osten gäbe es viel Skepsis wegen der „Aufnahme vieler Flüchtlinge“. Sie schlägt damit implizit vor, den Vorurteilen nachzugeben. Das ist das sichere Rezept dafür, die Partei im Osten flächendeckend zu pulverisieren, denn diese Stimmungen und Stimmen hat schon die AfD erfolgreich abgegriffen. Fun Fact: Sabine Zimmermann ist ausgewiesene Sozialpolitikern aus Sachsen. Sie klagt an, die Partei hätte a) im Osten und b) in der Sozialpolitik versagt.
Sahra: 0 Ahnung von Klimapolitik
Wenig überraschend schlägt Sahra Wagenknecht nach der Wahl in die gleiche Kerbe, die sie schon seit Jahren bearbeitet. Sie führt in einem Interview mit web.de als Gründe für die linke Niederlage die angebliche Überbetonung der Klimafrage an: „Ein Grund dürfte sein, dass wir in den letzten Jahren mehr und mehr zu einer Partei des gut situierten akademischen Fridays-for-Future-Milieus geworden sind … Wir müssen außerdem darauf achten, dass wir mit überzogenen Positionen die Zustimmung nicht verspielen, die wir mit guten Forderungen nach einem höheren Mindestlohn und gerechterer Steuerpolitik gewinnen können … Natürlich ist Klimapolitik ein wichtiges Thema. Es macht aber keinen Sinn, die Forderungen der Grünen zu kopieren und immer noch eins drauf zu setzen: Noch früher raus aus der Kohle, noch schneller den Verbrennungsmotor verbieten … In Wirklichkeit ist es nicht grün, sondern unehrlich, wenn man Menschen vormacht, mit den heutigen Technologien wäre es möglich, den Strom- und Energiebedarf unserer Volkswirtschaft komplett aus erneuerbaren Energieträgern zu decken.“
Die angeblich inhaltlich so klare Wagenknecht beweist mit diesem Zitat, dass sie keine Ahnung von der Klimakrise hat, denn technisch wäre die komplette Umstellung auf erneuerbare Energien möglich, abgesehen von der Notwendigkeit der Energieeinsparung und der Tatsache, dass es sich nicht um „unsere“ Volkswirtschaft handelt, sondern die des Kapitals.
Dazu kommt, dass sie schlicht Unsinn bezüglich des Wahlkampfes erzählt. Im Wahlprogramm tauchte die Klimafrage zwar auf, nicht jedoch im praktischen Wahlkampf. Die Plakate und Flyer konzentrierten sich auf die von Wagenknecht geforderte „soziale Frage“, ebenso die Publikationen im Web und Social Media. Im größten Bundesland NRW konnten Wagenknecht und ihre Anhänger*innen den Wahlkampf komplett selbst gestalten, nur ihre Leute standen zur Wahl. Dabei unterschied sich Der NRW-Wahlkampf nicht vom bundesweiten, weil die Forderungen der „Linkskonservativen“ längst erfüllt waren. Der Wahlkampf war ein Zugeständnis an Wagenknecht und es war ein großes Versäumnis, dass die Partei nicht ihre eigenen, sozialistischen Antworten auf die Klimakrise – verbunden mit der sozialen Frage – formulierte.
Wie schon in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ stützt sich Wagenknecht nie auf Zahlen, Fakten und Statistiken, sondern fabuliert Geschichten und zeichnet Zerrbilder – von der Partei, der Linken im breiteren Sinne, von der Arbeiter*innenklasse, von sozialen Bewegungen und letztendlich auch vom Kapitalismus, den sie lediglich reparieren möchte.
Die eigene Welt der SL
In der Stellungnahme der „Sozialistischen Linken“, die Wagenknecht unterstützt hat, finden sich viele durchaus richtige Punkte. Der Wahlkampf wäre gegenüber SPD und Grünen „handzahm“ gewesen, der Lagerwahlkampf illusionär. Zu Recht schreibt die SL: „Wirklich verbindende Klassenpolitik bedeutet die Betonung der gemeinsamen Interessen im Sinne der Solidarität und gleichen Rechte und Chancen aller hier lebenden Menschen.“
Für die Praxis schlägt sie allerdings vor, dass Wagenknecht eine herausgehobene Position hätte haben müssen, weil die Partei „populäre Persönlichkeiten, die in Talkshows ein Millionenpublikum erreichen“, brauche. Wagenknecht hatte als NRW-Spitzenkandidatin eine herausgehobene Position. Die LINKE dort hat besonders schlecht abgeschnitten. Inwiefern es der Partei helfen sollte, Wagenknecht noch mehr als ohnehin durch die TV-Talks tingeln zu lassen, damit sie jeden ihrer Auftritte nutzt, um eloquent die eigene Partei schlecht zu machen, bleibt das Geheimnis der SL. Ihre Wahlauswertung ist daher unfreiwillig komisch, mit einer Prise Absurdität.
Unter dem Strich haben sowohl Wagenknechts permanente Angriffe als auch die immer stärker werdende Anbiederung an SPD und Grüne durch Teile der Parteiführung viele Mitglieder demotiviert. Der laue Wahlkampf mit schwachen Plakaten tat ein Übriges. Die LINKE hat es nicht flächendeckend geschafft, die eigenen Mitglieder, Multiplikator*innen in den sozialen Bewegungen und das Umfeld zu mobilisieren, um Menschen zu überzeugen. In vielen Orten gab es Probleme, Plakate aufzuhängen und Aktionen durchzuführen. Eine motivierte Mitgliedschaft hätte nicht 5 Prozentpunkte mehr gebracht, aber gewiss die 0,1% zur Fünfprozenthürde und wahrscheinlich noch etwas mehr.