Seattles Stadträtin Kshama Sawant (Socialist Alternative) setzt sich in polarisiertem Rennen durch. Der Angriff des Establishments auf die Sozialistin ist gescheitert, obwohl die Abstimmung zwischen die Feiertage im Dezember gelegt wurde, um die Mobilisierung der Wähler*innen zu erschweren. 50,37 % (20.646 Stimmen) sorgten dafür, dass Kshama Sawant im Stadtrat bleibt.
Von Sebastian Rave, Korrespondent in Seattle
Seattle ist eine Stadt, in der die Kluft zwischen reich und arm unübersehbar ist. Im Schatten der Konzerntürme in Downtown, die den obszönen Reichtum einiger der reichsten Menschen der Welt zur Schau stellen, stehen die Zeltcamps der Obdachlosen. Die Mieten sind in den letzten zehn Jahren um 91 % gestiegen. Verantwortlich dafür sind Tech-Giganten wie Amazon und Microsoft, die ihre Konzernzentralen in der Stadt oder der Metropolregion haben und die Gentrifizierung anheizen. Vor allem die Schwarze Bevölkerung wurde aus dem Zentrum verdrängt.
Nach dem Abflauen der Black-Lives-Matter-Bewegung und der Abwahl von Trump ist scheinbar etwas Ruhe eingekehrt, doch unter der Oberfläche kranken die USA weiter an enormer Ungleichheit, Rassismus, einer Drogen- und Gesundheitskrise, Massenobdachlosigkeit von bis zu 1,5 Millionen Menschen sowie hoher Inflation. Bidens „Flitterwochen“ sind vorbei, seine Beliebtsheitswerte sinken angesichts seiner Unfähigkeit, Verbesserungen für das Leben arbeitender Menschen zu erreichen. Rechte Republikaner*innen beginnen, sich von der Wahlniederlage zu erholen und gehen in die Offensive.
Konstruierte Anschuldigungen
Vor diesem Hintergrund genehmigte das oberste Gericht im Bundesstaat Washington die Abstimmung über einen Abwahlantrag gegen Kshama Sawant. Es stellte fest, dass folgende Anschuldigungen für eine Abwahl ausreichen würden: 1) Kshama Sawant habe eine Demonstration zur Villa der Bürgermeisterin Jenny Durkan geführt, 2) während der Pandemie das Rathaus für eine Protestkundgebung geöffnet und 3) Ratsgelder für eine Volksabstimmung missbraucht.
Kshama Sawant wurde keine Gelegenheit gegeben, sich zu verteidigen und die Tatsachen darzulegen. Die Demonstration zum Wohnsitz der Bürgermeisterin wurde nicht von ihr angeführt oder organisiert, sondern von Familien von Opfern rassistischer Polizeigewalt, die Kshama darum gebeten hatten, eine Rede zu halten. Die kurze Kundgebung im Rathaus fand mit Masken, Desinfektionsmitteln und Abstand statt, während die Polizei die Black-Lives-Matter-Proteste mit Tränengas beschoss. Die „illegale Verwendung“ von Stadtratsgeldern für eine Volksabstimmung bezog sich auf 1.700 Dollar, die für das Volksbegehren für die Amazon-Steuer ausgegeben wurden. Kshama Sawant, die nicht gewusst hatte, dass dies ein geringfügiger Verstoß gegen die Ethikregeln des Stadtrats war, zahlte eine Strafe in doppelter Höhe der Ausgaben und bekannte sich schuldig, „unermüdlich für die Besteuerung von Amazon und Großunternehmen zu kämpfen“.
Unheilige Allianz der Rechten und Profithaie
Alle Anschuldigungen, so geringfügig oder unwahr sie auch sein mögen, beziehen sich nicht zufällig auf soziale Bewegungen: Die Black-Lives-Matter Bewegung und die Amazon-Steuer. Kshama Sawant und Socialist Alternative haben dem millionenstarken Aufstand gegen rassistische Unterdrückung eine Stimme gegeben und diesen buchstäblich ins Rathaus getragen. Wenige Wochen nach dem Tränengaseinsatz gegen Demonstrant*innen wurde Seattle durch Sawants Intervention die erste Stadt, in der der Einsatz von Tränengas verboten wurden.
Während der Demonstrationen wurden Unterschriften für die Amazon-Steuer zur Finanzierung von bezahlbarem Wohnraum gesammelt und der Bewegung damit auch eine soziale und ökonomische Richtung gegeben. Diese Rolle in der BLM-Bewegung, zusammen mit den oben erwähnten Errungenschaften für Mieter*innen, hat Kshama zur Zielscheibe für den Abwahlantrag gemacht.
Die Abwahl-Kampagne „Recall Sawant“ erhielt begeisterte Unterstützung von einer unheiligen Allianz aus rechten Trump-Republikaner*innen, Immobilienmogulen, den rechtsextremen „Breitbart News“ und CEOs von Boeing und Amazon. Ein Richter beschloss wenige Wochen vor der Wahl die Aufhebung des Spendenlimits für PACs (Politische Aktionskomitees, von Unternehmen unterstützte Interessensvertretungen), das große Geld öffnete seine Schleusentore und spülte eine Million Dollar in die Kasse der Abwahlkampagne. Das, gemeinsam mit der veränderten Zusammensetzung der Stadtbevölkerung durch die fortgeschrittene Gentrifizierung, haben diesen Kampf zu einem der härtesten für Socialist Alternative bisher gemacht.
Klare Kante
„Big Business“ hat sich aber auch mit einer Organisation angelegt, die wie nur wenige die Fähigkeit besitzt, Kampagnenfähigkeit mit politischer Schärfe zu kombinieren. Jeder Zug der Recall-Kampagne wurde durchdacht beantwortet. Statt zu versuchen, sich als brav, nett und harmlos zu präsentieren, benannte Socialist Alternative den Recall von Anfang an als das, was er: Rechts und rassistisch. Viele „Liberale“, die sich zumindest verbal irgendwie gegen das Schlechte und für das Gute einsetzen, aber doch bitte ihre Ruhe haben wollen und deswegen für den Recall waren, beschwerten sich lautstark über diese Charakterisierung.
Der Recall war dadurch also von Anfang an in der Defensive. Die Strategie der Abwahl war im Folgenden, durch einen ungünstigen Wahltermin die Wahlbeteiligung niedrig zu halten. Ein Gericht setzte den Wahltermin auf den 7. Dezember fest – nur wenige Wochen nach der Bürgermeister- und Stadtratswahl und mitten zwischen den Winterfeiertagen.
Der Kampf um eine hohe Wahlbeteiligung wurde das zentrale Motiv für die Kshama Solidarity Campaign. Schon im März 2021 wurde mit Haustürgesprächen begonnen, um Wähler*innen auf die Wahl vorzubereiten. Jede Wahlkampfschicht wurde politisch eingeleitet: Warum sind wir hier, welche politischen Entwicklungen gab es, welche Neuerungen in der Taktik ergeben sich daraus. Damit wurden die Wahlkämpfer*innen politisch für die Gespräche an den Türen vorbereitet. In der ersten Phase war das Ziel, eine möglichst genaue Einschätzung der Wähler*innenschaft zu erlangen. Mit der Schlüsselfrage „Können wir auf Ihre Nein-Stimme zum 7. Dezember zählen?“ konnte schnell zwischen Unterstützer*innen, Unentschlossenen und Gegner*innen unterschieden werden. In den Haustürgesprächen und an Infoständen wurden gleichzeitig die Anschuldigungen der Abwahlkampagne entkräftet und klargemacht, dass der Abwahlversuch ein Angriff gegen die Black-Lives-Matter-Bewegung darstellt, gegen das Recht auf Protest, gegen eine Kämpferin für Arbeiter*innen- und Mieter*innenrechte. Und, dass es gegen diesen Gegner nicht ausreichen würde, nur zu wählen.
Bausteine des Erfolges
Um der durch reiche Spender*innen finanzierten Abwahlkampagne und ihrer Bombardierung mit Propaganda in Fernsehen, bürgerlichen Medien und teuren Postsendungen etwas entgegen zu setzen, musste auch die Gegenkampagne viel Geld aufbringen. Bei jeder Person, die Unterstützung signalisierte, wurde in drei Anläufen um eine Spende gebeten. Erst um 50 Dollar. Wer sich das in dieser teueren Stadt nicht leisten konnte wurde um 15 Dollar für die Sozialistin gebeten, die den ersten 15 Dollar Mindestlohn erkämpft hat. Und da es keinen Preis gab, die Bewegung zu unterstützen, wurde schließlich um alles Kleingeld gefragt, was in der Sofaritze zu finden sei. Mit dieser Herangehensweise schaffte es die Kshama Solidarity Campaign, über eine Million Dollar Spenden zu sammeln, und erreichte das Ziel, über 5.000 und damit fast dreimal so viele Spender*innen aus Kshamas Wahlkreis zu gewinnen wie die Abwahlkampagne.
In der heißen Phase im November kam ein weiteres Hilfsmittel zum Einsatz: „Pledge Cards“, mit denen Unterstützer*innen gebeten wurden, mit drei Freund*innen, Nachbar*innen oder Kolleg*innen über die Abwahl zu reden und sie an die Wahl zu erinnern. 3000 Menschen konnten so einen kleinen Beitrag zur Kampagne leisten, die so in den Alltagsgesprächen der Stadt eine große Präsenz erreichte. So wurde sichergestellt, dass die Abwahl nicht durch die Feiertage, den Stress und die gerade erst stattgefundene Stadtratswahl vergessen werden würde.
Drei weitere entscheidende Bausteine für den Erfolg waren die nicht-englisch-sprachigen Teams, Wähler*innenregistrierungen und die Druckerstationen. Um Communities zu erreichen, die aus dem politischen Diskurs häufig ausgeschlossen sind, wurden Teams gebildet, die Haustürgespräche in Chinesisch oder Vietnamesisch halten konnten. Das Wahlkampfmaterial wurde in neun Sprachen übersetzt. Hunderte Menschen konnten so das erste Mal überhaupt informiert an einer Wahl teilnehmen. Fast 1800 Menschen, die gerade erst nach Seattle gezogen oder innerhalb der Stadt umgezogen waren, konnten durch die Kampagne neu zur Wahl registriert werden. Und mehr als 1000 Menschen konnten ihre Wahlunterlagen bei mobilen Druckstationen ausdrucken, die von der Kampagne organisiert wurden. Zum Redaktionsschluss betrug der Vorsprung von Kshama Sawant gegenüber der Abwahl gerade einmal 300 Stimmen. Wenn nur ein Baustein der Kampagne gefehlt hätte, hätte der Recall gewonnen.
Die Kshama-Solidarity-Campaign brach mehrere Rekorde: Die Anzahl und Höhe der gesammelten Spenden (über eine Million Dollar), die Anzahl der Wahlkämpfer*innen und Helfer*innen (über 1500), die gleichzeitig stattfindenden Infotische (65 am Wochenende vor der Wahl), gesammelte Unterschriften (15.000). Die enorme Anstrengung im regnerischsten November der Geschichte Seattles war nötig, um gegen die Niederhaltung der Wahlbeteiligung anzukommen. Und sie war erfolgreich. Arbeiter*innen, Jugendliche, People of Color und Mieter*innen konnten mobilisiert werden, und haben der Abwahl eine Absage erteilt.
Stadtrat kein Selbstzweck
Dieser Erfolg ist nicht nur das Ergebnis einer besonders großen Anstrengung der Wahlkämpfer*innen. Die korrekte Einschätzung der Perspektiven und ehrgeizige Ziele gehörten ebenso dazu. Vor allem aber wäre der Erfolg nicht möglich gewesen ohne das Organisationsprinzip des demokratischen Zentralismus: Der demokratische Beschluss von Socialist Alternative, diese Kampagne zum absoluten Fokus zu machen, und dann alle Kräfte auf einen Punkt zu konzentrieren, hat die Mobilisierung der enormen Ressourcen erst ermöglicht. Ohne die politische Klarheit und die ständige Schulung aller Mitglieder hätte dieser Kampf nicht gewonnen werden können. Und ohne die Überzeugung, dass der Kampf um einen Stadtratssitz kein Selbstzweck ist, sondern Teil einer größeren Aufgabe, dem Sturz des Kapitalismus, wäre die Opferbereitschaft der Wahlkämpfer*innen nicht so groß gewesen.
Wie Kshama Sawant in ihrer Siegesrede vor der versammelte Presse erklärte: „Wenn eine kleine revolutionäre sozialistische Organisation die reichsten Konzerne der Welt hier in Seattle immer wieder schlagen kann, dann können Sie sicher sein, dass die organisierte Macht der gesamten Arbeiter*innenklasse die Gesellschaft verändern kann.“