Als Nationalität mit eigener Sprache und Kultur standen die Ukrainer*innen bis zur Russischen Revolution unter der Fremdherrschaft der russischen Zaren und in der Westukraine unter der Österreich-Ungarns, dort wurden sie „Ruthenen“ genannt. Das Ukrainische war überwiegend eine Sprache der Bäuer*innen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand vor allem in der Westukraine eine Nationalbewegung.
Von Marcus Hesse, Aachen
Im zaristischen Russland wurden die ukrainische Sprache und Kultur unterdrückt. Das Ziel war die Assimilierung in der russischen Nation. Die Arbeiter*innenbewegung in der Ukraine hatte ihre Basis vor allem im industriell geprägten Donbass-Gebiet und in den großen Städten, wo überwiegend Russisch gesprochen wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg und im Zuge der Revolution 1917 bot sich die Chance, einen unabhängigen ukrainischen Staat zu errichten. Die Bolschewiki unterstützen diese Bestrebungen, da sie das Ende der großrussischen Vorherrschaft und das Selbstbestimmungsrechts der unterdrückten Nationen als Voraussetzungen für einen freiwilligen Zusammenschluss der Völker sahen.
Revolution und Bürgerkrieg
1917 wurde eine unabhängige Ukrainische Volksrepublik ausgerufen. Politisch dominierten in ihr aber anders als in Russland bürgerlich-nationalistische Kräfte. Gleichzeitig formierte die Arbeiter*innenklasse lokale Sowjetrepubliken. Zentrum der ersten großflächigen Sowjetrepublik in der Ukraine war die Stadt Charkiv. In Kiew konnte sich die Sowjetmacht zunächst nur kurz halten. Zeitgleich wurde die Westukraine um die Region Lemberg (Lviv) Teil des neuen Nationalstaats Polen. Die polnische Regierung ging ausgesprochen repressiv gegen alle Autonomiebestrebungen vor.
Der Russische Bürgerkrieg tobte in der Zentral- und Ostukraine. Das Gebiet entwickelte sich in den folgenden drei Jahren zu einem der blutigsten und chaotischsten Kriegsschauplätze. Bis Herbst 1918 besetzten Deutschland und Österreich-Ungarn einen Großteil des Landes und kombinierten dessen Ausplünderung mit der Unterstützung ukrainisch-nationalistischer Gruppen. Zeitgleich bekämpften konterrevolutionäre, „weiße“ Truppen die Rote Armee. Einen Teil des Landes kontrollierten die von Nestor Machno geführten Anarchist*innen. Allein zwischen 1917 und 1920 wechselte die Stadt Kiew 14 Mal die Machthaber.
Im Gebiet der Weißen Armeen General Denikins und unter dem Nationalisten Petljura gab es Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung, die etwa 100.000 Todesopfer forderten und zur Massenflucht von Jüd*innen führte. Schließlich vermochte sich die Rote Armee unter großen Opfern gegen die diversen reaktionären Kräfte durchzusetzen.
Sowjetmacht und Selbstbestimmung
Die erste Sowjetregierung hatte nur eine kurze Lebensdauer und stützte sich überwiegend auf die russischsprachigen Arbeiter*innen der Städte. Erst 1920/21 gelang es den Bolschewiki, dauerhaft die Kontrolle über die ganze Ukraine zu bekommen. Die letzten „Weißen“ wurden 1920 auf der Krim geschlagen. Bedeutend dafür war eine veränderte Politik gegenüber den Klein- und Mittelbäuer*innen. Durch die Fusion mit den sozialrevolutionären Borotbyisti konnten die Bolschewiki ihren Einfluss vergrößern. Eine Zeit lang existierten eine ukrainische und russischsprachige Kommunistische Partei (KP) sogar nebeneinander, bis es zur Bildung einer gemeinsamen Partei kam. Seitens Lenins und Trotzkis wurde in den 1920er Jahren eine Politik der Ausrichtung auf die ukrainische Autonomie eingeführt, mit gezielter Förderung der Sprache und Kultur. Der Name dieser Nationalitätenpolitik war “Korenizacija”.
So sollte die Sowjetukraine auch Anziehungskraft auf die Gebiete der Westukraine ausüben, wo Ukrainer*innen weiterhin national unterdrückt wurden. Dort entwickelte sich eine starke nationale Bewegung, die sich schnell in einen linken, pro-sowjetischen und einen rechten Flügel spaltete. Der spätere Faschist, Kriegsverbrecher und Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera, der in Teilen der Ukraine heute als Nationalheld gilt, entstammt dieser Tradition.
Im Zuge der Bürokratisierung unter Stalin wurde die Autonomie durch die Moskauer Zentralmacht wieder eingeschränkt. Führer*innen der ukrainischen KP wurden in den 1930ern wegen angeblichem ukrainischen Nationalismus und Unterstützung oppositioneller Strömungen abgesetzt.
Zwangskollektivierung und Hungersnot
Nachdem Stalin jahrelang für Zugeständnisse an die reichen Bäuer*innen (Kulaken) eingetreten war, führte eine Getreidekrise ab 1928 zu einer abrupten Wende. Stalins Regierung setzte auf eine beschleunigte Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft. Die Folgejahre waren von der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft geprägt. Das führte zu neuen bürgerkriegsartigen Konflikten des Staates mit der Bauernschaft. Kombiniert mit Missernten kam es 1932-33 in vielen Teilen der Sowjetunion zu einer Hungersnot, die bis zu fünf Millionen Todesopfer forderte. Die Ukraine war besonders schwer davon betroffen, ebenso wie Südrussland, Sibirien und Kasachstan.
Die Hungerkatastrophe von 1932-33 gilt seit dem Zusammenbruch der UdSSR als zentraler Bezugspunkt des ukrainischen Nationalbewusstseins. Dabei wurde von rechten Strömungen der Begriff „Holodomor“ („Tod durch Hunger“) geprägt, der nicht zufällig an den Holocaust der Nazis erinnern soll, eine Gleichsetzung beider beabsichtigt und sich allmählich im Sprachgebrauch durchsetzte. Er unterstellt der stalinistischen Führung, den Hunger vorsätzlich herbeigeführt zu haben, um die ukrainische Nation zu treffen. Die Regierungen der Ukraine und der USA sprechen von einem „Genozid“.
Historisch ist die These von der bewusst verursachten Hungersnot nicht haltbar. Zwar traf der Hunger die von Ukrainer*innen bewohnten Gebiete besonders schwer, aber auch ethnische Russ*innen. Zweifellos hat die Politik der Zwangskollektivierung die Katastrophe mitverursacht. Besonders kriminell war aber die politische Linie Stalins, die Existenz der Hungersnot offiziell zu leugnen und zu vertuschen. Hier zeigt sich der Unterschied zur Politik Lenins und Trotzkis, die über die Hungersnot 1921/22 nach dem Bürgerkrieg keineswegs schwiegen und von der Welt humanitäre Hilfe anforderten.
Die Invasion der Nazis, Kollaboration und Partisanenkampf
Die Hungerkatastrophe und die Säuberungen der 1930er Jahre beschädigten die Popularität des Sowjetstaates nachhaltig. Ab den 1930er Jahren argumentierte Trotzki aus dem Exil heraus für das Recht der Ukraine auf nationale Lostrennung. Als die Sowjetunion im Herbst 1939 – im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes – die polnische Westukraine annektierte, kamen Millionen Ukrainer*innen in ihren Machtbereich, die zuvor Teil Polens gewesen waren. Doch schon im Juni 1941 überfiel die Wehrmacht die nach Westen erweiterte Sowjetunion. Der faschistische „Rassen“- und Vernichtungskrieg begann mit voller Härte. Dabei wurde die Ukraine zum zentralen Schauplatz des planmäßigen Vernichtung der Jüd*innen. Das Massaker im Tal von Babyn Jar bei Kiew wurde zum Sinnbild dafür. Beim größten einzelnen Massaker des Zweiten Weltkriegs erschoss die deutsche Wehrmacht in nur zwei Tagen über 33.000 Jüd*innen.
Ukrainische Nationalist*innen, aber auch viele einfache Bäuer*innen, empfingen die Wehrmacht zunächst als „Befreier*innen“. Unter Bandera bildete sich eine Kollaborationsbewegung. Diese war aktiver Teil der Vernichtungsmaschinerie der Nazis. Wie im russischen Bürgerkrieg gingen Antisemitismus und Antikommunismus miteinander einher. Zwar geriet Banderas Bewegung nach einiger Zeit in Konflikt mit den Nazis, weil diese keinesfalls bereit waren, einen ukrainischen unabhängigen Staat zuzulassen – doch dies entlastet sie nicht von ihren historischen Verbrechen. Die faschistischen Besatzer*innen übten in der Ukraine eine Herrschaft des Terrors auch über ethnische Ukrainer*innen aus und plünderten das Land systematisch aus. Während des Krieges wurden allein zwei Millionen Ukrainer*innen als Zwangsarbeiter*innen ins Deutsche Reich verschleppt. Gegen die Nazi-Herrschaft bildete sich die Partisan*innenbewegung, die das Land an der Seite der Roten Armee nach jahrelangem verlustreichen Kampf befreite. Die Rolle Stalins war dabei alles andere als ruhmreich: Die Kollaboration von etwa 22.000 krimtatarischen Nationalist*innen mit den Deutschen beantwortete er mit der Deportation der gesamten muslimischen Ethnie von 180.000 Menschen nach Zentralasien.
Vom Krieg bis zum Ende der Sowjetunion
Zwischen 1945 und Stalins Tod kam es erneut zu großen Säuberungswellen, die viele ehemalige Kämpfer*innen gegen den Faschismus trafen. Viele ukrainische Kollaborateure flohen nach 1945 ins Ausland. München wurde ein wichtiger Exilort, da das konservative bayerische Establishment für diese Kräfte ein günstiges politisches Klima schuf. Trotzdem wurde der Kriegsverbrecher Bandera hier 1959 von KGB-Agenten erschossen. Nach 1991 sollte er zum „Helden“ der neuen ukrainischen Nationalist*innen avancieren.
1954 entschied Chruschtschow, die zu Russland gehörende Krim, in der überwiegend Russisch gesprochen wurde, der Ukrainischen Sowjetrepublik zuzuschlagen, ohne die dortige Bevölkerung nach ihrem Willen zu fragen. Erst nach vier Jahrzehnten gab es ein allgemeines Rückkehrrecht für alle deportierten Krimtatar*innen auf die Krim. Deren Nachfahr*innen waren ab 2014 die größten Gegner*innen der russischen Annexion der Krim, was auf der Halbinsel zu ethnischen Spannungen führt.
Die Nationalitätenkonflikte ebbten bis zum Zerfall der Sowjetunion ab. Aber ab 1991, im Zuge der Bildung der Ukraine als Nationalstaat und im Zuge der Wiedereinführung des Kapitalismus mit allen Konsequenzen (Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit) kamen sie wieder. In den aktuellen Konflikten treten sie offen zu Tage.