Die Bedingungen kurz vor der bayerischen Revolution kommen uns heutzutage sehr bekannt vor: Die spanische Grippe erreichte einen pandemischen Zustand. Die Wirtschaft litt unter einem Krieg in Europa, und die Arbeiter*innen zahlten an der Front mit ihrem Leben und zu Hause mit hoher Inflation.
Von Max und Nikolas Friedrich, München
Doch wäre es zu gewagt zu behaupten, dass wir heutzutage vor genau gleichen Ereignissen stehen. Allerdings ist die bayerische Revolution ein Beispiel dafür, wie schnell politisches Bewusstsein sich ändern kann. Selbst im ländlichen Bayern.
Im Vergleich zum sich rasch industrialisierenden Norden war Bayern am Anfang des 20. Jahrhunderts immer noch bäuerlicher. Das Königreich war sehr ländlich und konservativ, nur Städte wie München und Nürnberg wuchsen in Bevölkerungszahl und Industrie. Nach vielen Jahren des Ersten Weltkrieges war die Bevölkerung in Bayern kriegsmüde, wie in vielen Bereichen Europas. In Russland führte die Kriegsmüdigkeit zur Februar- und Oktoberrevolution, die ersten und erfolgreichsten Revolutionen in den Abendstunden des Ersten Weltkrieges.
Gegen Ende des Krieges gab es einen kleinen Linksruck in Bayern. Die SPD fand Unterstützung in einigen neuen Teilen der Bevölkerung. Die Unabhängige SPD (USPD), die in Opposition zur Kriegsunterstützung der SPD gegründet worden war, blieb aber eine kleine Kraft. Die bayerische USPD wurde von Kurt Eisner, einem Intellektuellen aus Norddeutschland, angeführt.
Doch konnte die kleine USPD in Klassenkämpfen einiges bewirken. Januar 1918 organisierte Eisner gemeinsam mit anderen USPDler*innen einen Streik von Munitionsarbeiter*innen, ähnlich dem Munitionsstreik in St. Petersburg, der die Februarrevolution auslöste. Doch konnte die USPD den Streik nicht ausweiten. Eisner und andere führende Kräfte der USPD wurden verhaftet, aber zu seinem Glück war er im Oktober 1918 wieder frei.
Als Eisner aus dem Gefängnis kam, war die Situation noch angespannter als Anfang des Jahres. Meutereien in der Kriegsmarine November 1918 brachten die deutsche Beteiligung am Krieg zu Ende. Räte von Arbeiter*innen und Soldat*innen wurden in ganz Deutschland gebildet. Am 7. November demonstrierten Arbeiter*innen auf der Theresienwiese (Standort des jährlichen Oktoberfests). Revolution lag in der Luft.
„Majestät, genga S’ ham, Revolution is!”
König Ludwig III. erfuhr unerwartet während einem Spaziergang im Englischen Garten am 7. November, dass die Revolution losging. Er floh kurz danach. Ob es so genau passiert ist, ist zweifelhaft, aber es drückt aus, wie eine revolutionäre Situation scheinbar von einem Tag auf den anderen entstand.
Nach der Demo auf der Theresienwiese marschierten Eisner und ein USPD-Kontingent der Demonstrant*innen in die Stadt. Sie agitierten die Soldat*innen in den Kasernen, die sich der Gruppe endgültig anschlossen. Am folgenden Tag rief der „Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat“ mit Unterstützung der USPD und SPD den Freistaat Bayern aus, mit Kurt Eisner als erstem Ministerpräsident.
Gleichzeitig brach im Rest des Deutschen Reichs und in den deutschen Armeen auch die Revolution aus. Die Arbeiter*innen- und Soldat*innenräte erzwangen den Sturz der Monarchen und der Diktatur der Reichswehr. Ein Bürgerkrieg brach aus, in dem die reaktionären Offiziere zusammen mit neuen, sich formierenden rechtsextremen Organisationen und im Auftrag des rechten Flügels der SPD versuchten, die Revolution gewaltsam abzuwürgen.
Vergeudete Monate
Im bayerischen Freistaat dagegen folgten auf den Umsturz sehr ruhige Monate. Eisner ging davon aus, dass aus der Revolutionszeit mit ihren Räteorganen die parlamentarische Demokratie entstehen würde. Sein Stellvertreter Hoffmann, ein rechter Sozialdemokrat, war in engem Kontakt mit der Reichsregierung und würde bald die Gegenrevolution in Bayern anführen. Eisner und seine pazifistische Regierung glaubten, mit der Abdankung der Wittelsbacher wäre die Revolution erfüllt. Er verhielt sich wie ein normaler bürgerlicher Regierungschef, welcher versuchte eine Brücke zwischen linken und konservativen Strömungen zu bauen. Er bemühte sich nur um die Organisation der Landtagswahlen und um Kontakte zu anderen Regierungschefs. Sozialreformen jenseits des Achtstundentags und des Frauenwahlrechts wurden nicht umgesetzt und er erzeugte Illusionen, dass es einen friedlichen Weg von den Räten zur sozialen Demokratie gäbe. Als bei den Wahlen im Januar 1919 Eisners USPD vernichtend abschnitt und er zurücktreten wollte, ermordete ihn ein Rechtsradikaler am 21. Februar.
Der Schock, dass der beliebte Politiker trotz seiner Pazifismus- und Versöhnungspolitik von Gegenrevolutionären umgebracht wurde, drehte die Gesamtsituation völlig um. Eisner war die personalisierte Revolution in Bayern, selbst für Arbeiter*innen die nicht der USPD folgten. Seine Ermordung erzürnte die Münchner Bevölkerung dermaßen, dass der „Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat“ eine neue Regierung in München aufstellte: Den Zentralrat.
Gleichzeitig begann das im Januar 1919 neu gewählte Parlament zusammenzutreten und die Koalitionsregierung Hoffmann aus SPD und Bayerischer Volkspartei (BVP) trat am 17. März in Bamberg zusammen, während die Arbeiter- und Soldatenräte in den Großstädten sich nicht auflösten. Eine Art Doppelherrschaft wie im Februar 1917 in Russland entstand. Und in diesem Chaos fehlte die revolutionäre Partei.
In München gab es viele beliebte linke Intellektuelle, welche während des Weltkriegs wichtigen pazifistischen Aktivismus geleistet hatten. Aber revolutionäre Politiker*innen und Aktivist*innen des Spartakusbunds bzw. der KPD waren selten. Die nationale Führung war zu diesem Zeitpunkt zerschlagen. Luxemburg, Liebknecht und Co. waren ermordet. Die Partei vielerorts verboten. In München kämpft der kommunistische Intellektuelle Max Levien, der russische Revolutionär Eugen Leviné und der erfahrene Kader Karl Retzlaw trotz der Schwäche und Unerfahrenheit der KPD unermüdlich dafür, in die stürmische revolutionäre Stimmung eingreifen zu können. Denn während in den anderen Teilen Deutschlands die Revolution niedergeschlagen wurde, öffnet sich in München das interessanteste Kapitel: Die Münchner Räterepublik und ihre 23 Tage.
Erste und zweite Räterepublik
In den Geschichtsbüchern zur Münchner Räterepublik unterscheidet man diese in einen von harmlosen, anarchistischen Intellektuellen geführten Fantasiestaat und eine angeblich blutrünstige kommunistische Terrorherrschaft. Obwohl in den Räten wie in der bürgerlichen Regierung in Bamberg die rechten Sozialdemokrat*innen die Mehrheit hatten, wuchs unter den Arbeiter*innen der Wunsch nach einer Räteregierung wie in Russland oder Ungarn. Auch die Münchner anarchistischen Intellektuellen Landauer, Mühsam und Toller im Zentralrat welche sich um oder in der USPD organisierten, forderten die Einführung der Räterepublik. Sogar der SPD-Kriegsminister der Bamberger Regierung Schneppenhorst verlangte die sofortige Ausrufung. Nie mehr in der Geschichte gelang es, so einfach eine Räterepublik zu installieren wie am 7. April 1919. Sogar den Kommunist*innen wurden zwei Posten als Volkskommissare angeboten.
Diese lehnten brüskiert das ganze Projekt und ihre Mitarbeit ab, da die noch existierenden Räte aufgrund der monatelangen Passivität zu diesem Zeitpunkt noch gar keine Macht ausübten, welche sie an eine Räteregierung übertragen konnten, und die Mitarbeit rechter SPD-Politiker ein Hohn auf die Revolution war.
Der KPD-Aktivist Leviné, welcher kurz zuvor die Märzkämpfe in Berlin knapp überlebte, kommentierte das Angebot von USPD und SPD folgendermaßen:
„Die Räterepublik wird nicht vom grünen Tisch proklamiert, sie ist das Ergebnis von ernsten Kämpfen des Proletariats und seines Sieges. Das Münchner Proletariat steht noch vor solch entscheidenden Kämpfen… Gegenwärtig ist der Augenblick der Proklamation einer Räterepublik außerordentlich ungünstig. … Nach dem ersten Rausch würde folgendes eintreten. Die Mehrheitssozialist*innen würden sich unter dem ersten besten Vorwand zurückziehen und das Proletariat bewusst verraten. Die USPD würde mitmachen, dann umfallen, anfangen zu schwanken, zu verhandeln und dadurch zum unbewussten Verräter werden. Und wir Kommunist*innen würden mit dem Blut unserer Besten eure Taten bezahlen.“
(Leviné S. 82)
Während die Kommunist*innen sich in den kommenden Tagen bemühten, das Bewusstsein in den Räten zu steigern und USPD-Anhänger*innen zum Beitritt zu den Kommunist*innen zu motivieren, sperrten bayerische Polizisten weiter jede*n Arbeiter*in ein, der*die nach Ende der Sperrstunde noch auf der Straße war, verweigerten die Beamten in den Amtsstuben die Anweisungen der Räteregierung, ignorierten die Bürgerlichen den Aufruf ihre Waffen abzugeben und versäumte die Räteregierung die Gründung einer „roten Armee“ um der drohenden Belagerung entgegenzutreten. Während die SPD-Mitglieder der Räteregierung nach und nach Richtung Bamberg verschwanden, kamen am 12. April rechte Soldaten nach München, nahmen die Mitglieder der Räteregierung gefangen und beendten die Räterepublik.
Hier hätte es zu Ende sein können, doch ein weiteres Kapitel eröffnete sich. Die Münchner Arbeiter*innen erhoben sich gegen den rechten Putsch, befreiten viele der Gefangenen, vertreiben die Putschist*innen, erinnern sich an die Mahnungen der Kommunist*innen und beantragten die Bildung einer „echten“ Räteregierung. Auch für die KPD ist nun der Geist aus der Flasche. Es gibt kein Zurück mehr und ein Ausweichen bedeutet, die Arbeiter*innenklasse in Stich zu lassen. Sie fügen sich dem revolutionären Willen der Arbeiter*innenklasse. Die zweite Räteregierung wird ausgerufen.
Als Programm wird ausgegeben: Bewaffnung des Proletariats, Befreiung der politischen Gefangenen, Auflösung der Parlamente und der gegenrevolutionären marodierenden Truppenteile, Auflösung der Verwaltungsbehörden deren Arbeiten an die Räte übergehen. Übernahme der Großbetriebe und Bergwerke, Linderung der Wohnungsnot durch Aufteilung der großen Luxuswohnungen, Streichung der Kriegsanleihen unter 20.000 Mark. Die Betriebsräte üben die vollständige Kontrolle über die Leitung der Betriebe aus. Jeder Betrieb über 10 Beschäftigten konnte Delegierte zur Versammlung der Betriebs- und Personalräte schicken. Gleich zu Beginn wird ein Generalstreik über mehrere Tage ausgerufen und zehntausende Arbeiter*innen demonstrieren und besetzen täglich die Straßen.
Die Lage des revolutionären Münchens war inzwischen schwierig bis hoffnungslos, da zu diesem Zeitpunkt in mehr und mehr Orten die Räte mit dem Vormarsch der Gegenrevolution aufgelöst wurden. Die gegenrevolutionären Soldaten der Regierung in Bamberg sammelten sich vor der Stadt und zogen die Belagerung immer enger. Auf 50 rechte, schwerbewaffnete Freikorpsmitglieder kam ein*e Kämpfer*in der roten Armee. Gleichzeitig erklärt die Regierung in Bamberg sie verhandele nicht. Selbst eine bedingungslose Kapitulation würde nicht akzeptiert werden. Alle Revolutionär*innen sollen verhaftet und vor Gericht gestellt werden. Am 27. April unter dem Eindruck der drohenden Niederlage stimmten die Räte einem Antrag der Münchner anarchistischen Intellektuellen zu, dass die KPD zurücktreten solle. Am 30. April eroberten dann die Freikorps blutig die Stadt.
Hunderte standrechtliche Exekutionen von angeblichen Kommunist*innen und Sympathisant*innen wurden von sogenannten „Volksgerichten“ durchgeführt, um die Reste der Räterepublik auszumerzen. Die bürgerliche Angst vor einer Wiederauferstehung des Kommunismus bereitete den Aufstieg der Rechten in Bayern vor.
Tödliche Konsequenzen
Bis auf den Achtstundentag und das Wahlrecht für Frauen, waren alle Gewinne der Räterepublik nach der Konterrevolution weg. Nichtsdestotrotz war die Revolution der erste Schlag im Niedergang der Monarchie in Deutschland. In der Weimarer Republik wurde Bayern ein Zentrum der Rechten und eine Hochburg der Nazis. Eine extrem reaktionäre Stimmung folgte der revolutionären Stimmung unmittelbar nach. Die Freikorps und andere paramilitärische Gruppen wurden auch in den folgenden Jahren nicht aufgelöst. Die Volksgerichte, die zahlreiche Revolutionär*innen zu Tode verurteilt hatten, blieben auch weiterbestehen.
Die reaktionäre Stimmung auf der einen Seite und die Strukturen der Konterrevolution auf der anderen Seite waren eine tödliche Mischung, die einen Nährboden für den Aufstieg des Nazi-Regimes und all seiner Schrecken bot. Die Volksgerichte hatten auch die Aufgabe, Hitler und andere am Hitlerputsch beteiligte Nazis zu verurteilen. Ihre reaktionäre Zusammensetzung bedeutete, dass Hitler nahezu freigesprochen wurde, und eine sehr milde Strafe bekam. Nach nur acht Monaten Haft (nochmal weniger als das tatsächliche Urteil) waren Hitler und andere Nazis wieder frei.
Was bleibt übrig?
In der Geschichte der Revolutionen während und nach dem 1. Weltkrieg war die bayerische Revolution ein Scheitern. Für heutige Marxist*nnen bringt sie aber viele Lehren.
Auf den ersten Blick merkt man wie schnell Bewusstsein sich in angespannten Zeiten, wie am Ende des Ersten Weltkrieges, ändern kann. Im November war die Stimmung gegen die bayerische und deutsche Monarchie, aber im Januar war das Vertrauen in der von Eisner geführten Regierung schon weg. Doch war Eisners Mord ein Funke, der den revolutionären Geist in breiten Schichten der Arbeiter*innenklasse befreit hat.
Diese unglaubliche Dynamik im Bewusstsein schätzten viele linke Köpfe und Parteien, wie Eisner, USPD und KPD, schlecht ein. So waren sie den Massen oft hinterher, griffen spät ein und wurden in einer verkehrten Art und Weise von den Massen mitgerissen. Dabei hat die Linke oftmals das falsche Programm und die falsche Strategie angeboten. Eisners Versuch, die revolutionäre Massenbewegung in ein parlamentarisches System umzuwandeln, hat eher Schaden angerichtet und das Bewusstsein verwirrt. Wie bei Allende in Chile 1973 ist Eisner in Bayern 1919 ein weiteres Beispiel dafür, dass Sozialist*innen den bürgerlichen Staat nicht einfach übernehmen können, sondern eine neue Arbeiter*innenregierung aufstellen müssen.
Daher ist es wichtig für Sozialist*innen Sprünge im Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse schnell zu erkennen, sowie diesem Bewusstsein politische Klarheit in Programm, Taktik und Strategie zu schaffen. Allzu oft sind es die Schwächen der revolutionären Führung, die den Erfolg oder Misserfolg einer Revolution ausmachen.
Trotz alledem war die Räterepublik, egal wie kurzlebig, ein wichtiges Zeichen. Die Geschehnisse zeigten, wie schnell revolutionäre Situationen an den unwahrscheinlichsten Orten entstehen können, und die Notwendigkeit einer richtigen Organisierung der Arbeiter*innenklasse, um die Revolution zu vollenden.
Titelbild: Demo auf der Theresienwiese am 7. November 1918