Am 7. April streikten in Berlin 3000 Lehrkräfte für kleinere Klassen und mehr Personal. Die Gewerkschaft GEW hatte die angestellten Lehrkräfte der 683 öffentlichen Berliner Schulen zu einem Warnstreik für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz aufgerufen. Ein Novum mit bundesweiter Signalwirkung: erstmals soll die Personalbemessung an Schulen nicht mehr einseitig durch die Landesregierung, sondern tarifvertraglich geregelt werden – Entlastung durch mehr Personal.
Gastbeitrag von Christoph Wälz, Berlin
„Bei uns findet in den Jahrgängen 7 bis 10 heute kein Unterricht statt, in 4 bis 6 ist nur Notbetreuung“, berichtet ein Kollege einer Gemeinschaftsschule, in der Schüler*innen von Klasse 1 bis 13 lernen. „Mir ist wichtig, dass die Schüler merken, dass sich ihr Lehrer für bessere Bedingungen zum Lernen und Arbeiten einsetzt. Da habe ich auch eine Vorbildfunktion.“
Die GEW-Betriebsgruppe einer Grundschule hat sich am Vortag getroffen und Schilder für den Streik gemalt. „Schluss mit der Massenkindhaltung“, haben sie draufgeschrieben oder „1 : 28 – Da bleibt nicht viel!“ Der Vertrauensmann der Schule meint dazu: „Bis zu 20 Schüler kannst du gut unterrichten. Aber jeden darüber merkst du richtig.“
Die GEW hat den Berliner Senat schon im Juni 2021 aufgefordert, in einem Tarifvertrag für die Lehrkräfte Berlins Maximalgrößen für einzelne Jahrgänge zu regeln, zum Beispiel 21 Schüler*innen in Klasse 7. Für die nötige Absenkung der Klassengrößen sollen zusätzliche Stellen geschaffen werden.
Erfolge in Schulen und Krankenhäusern
In Berlin gibt es eine besondere tarifpolitische Situation, da Lehrkräfte hier seit 2003 nicht mehr verbeamtet werden. Der Anteil der Angestellten unter den 34.000 Lehrkräften Berlins ist mittlerweile auf 69% gestiegen. Dass sie auch streikfähig sind, haben diese Tarifbeschäftigten bereits 2012 bis 2016 bewiesen. Damals konnten sie erreichen, dass in Berlin das Gehalt der Grundschullehrkräfte an das Gehalt von Studienrät*innen angeglichen wurde – ein bundesweiter Durchbruch, der inzwischen in diversen Bundesländern nachvollzogen wurde.
Ein Redner verweist auf der Kundgebung am 7. April außerdem auf das positive Beispiel der Krankenhäuser, in denen die Schwestergewerkschaft ver.di eine tarifliche Personalbemessung durchsetzen konnte. Diesen historischen Erfolg nimmt sich die GEW Berlin zu Recht als Vorbild. In vielen sozialen Berufen wurde die Arbeitsbelastung dramatisch erhöht. Die Arbeitgeber rechnen dabei immer damit, dass die Beschäftigten dies aufgrund ihres großen Verantwortungsgefühls für die ihnen anvertrauten Menschen hinnehmen.
Vor diesem Hintergrund hat die GEW Berlin im Herbst 2019 beschlossen, die überbordende Arbeitsbelastung der Lehrkräfte durch eine Kampagne für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz anzugehen. Bisher wird die Klassengröße einseitig durch Verordnungen und Verwaltungsvorschriften der Bildungsverwaltung festgelegt.
Aus erfolgreichen Kämpfen lernen
Im Pflegebereich ist es ver.di gelungen, Arbeitskämpfe zu einem akzeptierten und wirkungsvollen Mittel zu machen: Mit dem Slogan „Mehr von uns ist besser für alle“ wird das Interesse der Beschäftigten am Schutz ihrer Gesundheit mit dem Interesse der Patient*innen und der gesamten Bevölkerung an einer bedarfsgerechten und würdevollen Gesundheitsversorgung gleichgesetzt.
Am 7. April haben sich aus dem Stand heraus zwar recht viele Lehrkräfte am Streik beteiligt, aber insgesamt bisher nur eine deutliche Minderheit der Beschäftigten. Die Herausforderung besteht jetzt darin, tatsächlich Mehrheiten für den Arbeitskampf zu gewinnen, und zwar nicht nur in den Kollegien der einzelnen Schulen: auch Mehrheiten in der Bevölkerung für das Anliegen der Streikenden sind nötig. Nur dann besteht eine Perspektive, den erforderlichen politischen Druck zu entfalten, um zusätzliche finanzielle Mittel im Landeshaushalt durchzusetzen.
Links:
Mehr Informationen zum Tarifprojekt: https://www.gew-berlin.de/tarif/tv-gesundheitsschutz
Die ungekürzte Erstveröffentlichung auf Labournet findet ihr unter https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2022/04/waelz150422.pdf