Während sich international die Angriffe auf LGBTQI+ Rechte mehren, Frauenrechte in Frage gestellt werden, und zudem Pandemien eine große Gefahr für unsere Gesellschaft und das Ökosystem darstellen, erscheint der Inhalt von 120 BPM erstaunlich aktuell. Denn der französische Film von 2017 handelt vom Aktivismus von Act-Up Paris in den bitteren Jahren der AIDS-Pandemie.
Gabrielle, Hamburg
Die Geschichte von Act-Up Paris ist in vielerlei Hinsicht von großer Bedeutung. Dieser Verein, der nach dem Vorbild von Act-Up in den USA 1989 gegründet wurde, hat eine maßgebliche Rolle im Kampf gegen AIDS gespielt. Als die französische Sozialdemokratie (von 1981 bis 1995 an der Macht) die Pandemie ignorierte und Kirche und Konservative AIDS als „Schwulenkrankheit“ darstellten, setzte Act-Up dem eine medial wirksame öffentliche Kampagne entgegen. Der Verein war Teil der Schwulenbewegung, viele Mitglieder waren selbst von der Pandemie betroffen .
Aktionsformen und Kontroversen
Act-Up lenkte durch eine Reihe von Aktionen des zivilen Ungehorsams, die als „zap“ bezeichnet wurden, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Pandemie. Ein Beispiel für solche prägnanten Aktionen waren „Die-Ins“. Diese Aktionsform wurde vor allem gegen die katholische Kirche eingesetzt. Um die tödliche Bedeutung von AIDS zu zeigen, verschafften sich die Aktivist*innen Zugang zu öffentlichen Gebäuden und verteilten dort falsches Blut. Auch Verhütungsmittel wurden in der Öffentlichkeit bei Aktionen gezeigt, so stellte Act-Up Paris ein riesiges Kondom auf den Platz der Republik, einen der zentralen und berühmtesten Plätze der Stadt. Die Regierung Mitterrand sah sich mit einem großen Skandal konfrontiert, als bekannt wurde, dass Krankenhauspatient*innen mit dem HI-Virus kontaminierte Bluttransfusionen erhalten hatten. Dies erregte der Wut der Act-Up-Aktivist*innen, die sich oftmals sehr kritisch zur Regierung äußerten.
Nicht nur die Fehler und das Versagen der Regierung und traditionellen Einrichtungen wurden durch diesen Aktivist*innen in die Frage gestellt, vielmehr wurde auch die Mitschuld der Pharmaindustrie in den Vordergrund gerückt. Die Weigerung, Forschungsergebnisse offenzulegen und das Profitstreben wurden von den von der Krankheit Betroffenen scharf kritisiert. Eine der ersten Szenen des Films zeigt einen „Zap“, der in die Büros des Pharmakonzerns Melton Pharm führt.
Auch wenn die Figuren dieses Filmes frei erfunden sind, sind mehrere Anspielungen auf reale Personen klar erkennbar. Sie spiegeln sowohl die Stimmung als auch die Widersprüche dieser Bewegung wider. Die Gruppe arbeitete auf demokratischen Grundlagen. Debatten und Kontroversen unter den Mitgliedern wurden offen ausgetragen, was auch im Laufe des Films gezeigt wird.
Das Leben einer solchen Organisation und ihrer Aktivist*innen beschränkte sich nicht nur auf Debatten und „Zaps“, sondern war in eine bestimmte Subkultur eingebunden. Der Titel des Films nimmt Bezug auf den Rhythmus der Musik, die in den Gay-Clubs gespielt wurde. Act-Up bildete auch eine Solidaritätsgemeinschaft, mit einem Charakter von Selbsthilfe, da nach Behandlungsmöglichkeiten für AIDS gesucht wurde. Die oft selbst von der Krankheit betroffenen Aktivist*innen spürten am eigenen Körper: „Leben heißt kämpfen“.
Die Rezeption von 120 BPM zeigt die Scheinheiligkeit der bürgerlichen Kulturkritik . Der Film wurde zwar mit dem Großen Preis der Jury der Internationalen Filmfestspiele von Cannes und einem Cesar ausgezeichnet, der Aktivismus seiner Protagonist*innen wurde jedoch allzu oft als wahnsinnig und zu radikal verurteilt. Während sich Teile der Bourgeoisie heute als fortschrittlich inszenieren, waren sie damals noch unter den ersten, die die Aktivitäten von Act-Up als schändlich brandmarkten.
Der Kampf geht weiter
Der Kampf um Gesundheit und Lebensbedingungen von LGBTQI+ Menschen ist auf keinen Fall gewonnen, und so ist es auch mit den Aktivitäten von Act-Up. AIDS gibt es immer noch, und die Krankheit tötet vor allem die marginalisierten Teile des Proletariats, vor allem in Ländern des globalen Südens. In seiner Arbeit setzt der Verein verschiedene Schwerpunkte, wie die Rechte und Gesundheitsversorgung kranker Migrant*innen oder auch Drogenkonsument*innen. Act-Up spielte z.B. auch eine Rolle in der Bekämpfung der „Manif pour Tous“ (eine konservative Bewegung, die die Aufhebung der gleichgeschlechtlichen Ehe forderte) in den 2010er Jahren. Heute sind sie Teil der LGBTQI+ Bewegung und kämpfen weiter für die Verteidigung und Ausweitung ihrer Rechte. Doch es zeigen sich auch Widersprüche. So gab es z.B. einige Jahre nach Veröffentlichung des Films eine Abspaltung von Act-Up, die enger am ursprünglichen Schwerpunkt AIDS arbeiten wollte. Ein weiterer kontroverser Punkt bleibt die Frage ihres Verhältnisses zum Staat.
Pride- und CSD-Veranstaltungen werden von der Bewegung bis heute oft als Anlässe genutzt, um Fragen rund um Gesundheit und Lebensbedingungen in die Öffentlichkeit zu tragen. Auch der Film zeigt, wie die Protagonist*innen solche Events nutzen, um politische Inhalte zu verbreiten. Damals wurden bei CSDs und Pride-Märschen viele politische ernsthafte Themen behandelt, nicht nur vor dem Hintergrund von AIDS. Unsere Aufgabe muss es sein, diesen Aktionen ihren politischen Inhalt zurückzugeben und dabei aus einer internationalistischen und sozialistischen Perspektive weltweit für unsere Rechte zu kämpfen.
Ein Film wie 120 BPM kann uns Denkanstöße zu politischer Praxis, zu Aktionen, Strategien zu medialem Auftreten und seinen Grenzen bieten. Auch wenn Act-Up Paris nicht ausreichend an andere Kämpfe angeknüpft hat, zu wenig Klassenperspektive eingenommen oder antikapitalistische Positionen vertreten hat, kann der Blick auf diese Bewegung zu Beginn der 1990er auch heute und zukünftig in unterschiedlicher Hinsicht als Vorbild und Inspiration für Aktivist*innen dienen. Schließlich sind die Bekämpfung von Pandemien, das Vorgehen der Pharmaindustrie und unzureichende Maßnahmen seitens der Staaten gegen die aktuelle Ausbreitung der Affenpocken, gerade für queere Menschen erneut von bitterer Aktualität.
Robin Campillo: 120 Battements par Minutes/120 BPM, 2017, 143 min