“Solidarisch durch den Herbst”
Jeweils einige Tausend wurden von Gewerkschaften und Sozialverbänden in sechs Städten mobilisiert, 24.000 sollen es insgesamt gewesen sein, die bei milden Temperaturen für eine “solidarische Politik” demonstriert haben. Man muss ehrlich sein: Angesichts der explodierenden Lebenshaltungskosten ist das schwach. Woran hat’s gelegen?
von Sebastian Rave, Bremen
1. Mobilisierung schwach
Campact hat sicherlich dutzende E-Mails geschrieben, die Gewerkschaft ver.di eine einzige. Immerhin, an alle Mitglieder, das kommt auch nicht häufig vor. Aber gemessen an dem, was möglich gewesen wäre (und auch früher schon mal gemacht wurde), ist das keine ernsthafte Mobilisierung. Die Demos hätten über Großflächenplakate und im öffentlichen Nahverkehr beworben werden können statt nur über Anzeigen in einigen linken Zeitungen. Vor allem aber haben die Gewerkschaften scheinbar verlernt, in den Betrieben zu mobilisieren, wenn gerade keine Tarifrunde ist.
2. Programm schwammig
Der Aufruf forderte eine “solidarische Politik”, im Konkreten klang das aber eher nach Appell an die Herrschenden, doch bitte alle mitzudenken. Auf vielen der Demos und Kundgebungen waren es die Aktivist*innen von Fridays for Future, die die radikalsten Redebeiträge gehalten haben und “System Change” forderten. Konkret würde das unserer Meinung nach heißen, die Energieriesen zu enteignen statt nur höher zu besteuern – so könnte man auch die Umstellung der Energieproduktion erzwingen. Statt eine “bezahlbare Nachfolge” für das 9-Euro-Ticket hätte man fordern müssen, das 9-Euro-Ticket wieder einzuführen. Forderungen nach höheren Löhnen oder gar einem Indexlohn wurden überhaupt nicht erhoben, als hätte man darauf keinen Einfluss. Insgesamt musste man den Eindruck gewinnen, dass das gefordert wird, was die Regierung ohnehin macht, aber bitte ein bisschen mehr davon. Begeisterung kam keine auf.
In Düsseldorf behauptete die stellvertretende Vorsitzende Andrea Kocsis, alle Anwesenden würden die Sanktionen gegen Russland unterstützen und verkündete: „Es war total richtig, heute auf die Straße zu gehen, um zu zeigen, dass wir Rechts- oder Linksaußen nicht die Plätze auf den Straßen überlassen.” und schlug damit einem großen Teil der Demo-Teilnehmer*innen ins Gesicht, die sich klar als links verstehen.
Ihre prominent platzierte Rede war eine einzige Absage an kämpferische Proteste. Sie machte die Demonstrierenden zu Bittstellern bei der Regierung und versuchte, diese für die militärische Unterstützung der Ukraine zu vereinnahmen. Dafür gab es auch Buhrufe.
Die Proteste gegen die Preiserhöhung müssen sich klar gegen rechts abgrenzen und eine Unterstützung der russischen Besatzung der Ukraine ablehnen, doch sie müssen sich ebenso dagegen verwahren, für die Unterstützung der Regierung, Aufrüstung und Waffenlieferungen vereinnahmt zu werden. Sonst werden sie scheitern, bevor sie sich entwickeln können.
Ganz anders agierte der Straßenbauarbeiter Thilo Nicklas (IG BAU und Kölner Bündnis “Genug ist genug – die Preise müssen runter”), der in einem Interview auf der Bühne die Lage der Beschäftigten in der Baubranche schilderte, für die Vergesellschaftung von Energiewirtschaft und Immobilienkonzernen eintrat und sich klar gegen die Aufrüstung der Bundeswehr positionierte.
3. Krise noch nicht im Bewusstsein angekommen?
Natürlich können auch mit dem besten Programm und den größten Bemühungen die Kolleg*innen nicht auf Knopfdruck zu Hunderttausenden mobilisiert werden. Klar: Alle, die auf Lohn angewiesen sind, wissen, wie teuer z.B. Lebensmittel geworden sind, die meisten machen sich Sorgen um die nächste Gasrechnung. Das Problem ist, dass diese Probleme von vielen als nicht von ihnen lösbar betrachtet werden, weil die Ursachen weit weg und groß sind: Der Krieg, die Nachwirkungen der Pandemie, die allgemeine Krise der Weltwirtschaft, der Klimawandel und insgesamt die Auswirkungen der Überausbeutung des Planeten.
Die Antwort darauf kann weder sein, nur kleine Reförmchen zu fordern, noch dass man nichts unter der Abschaffung des kapitalistischen Systems fordert, weil dieser – und das stimmt ja – die Ursache all dieser Probleme ist. Es braucht jetzt eine Politik, die sich mit Banken und Konzernen anlegt, statt sich von ihnen an die Kette legen zu lassen. Die Enteignung und demokratische Kontrolle über die Energiewirtschaft, die Einführung staatlicher Preiskontrollen oder die automatische Anpassung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen an die Inflation wären im Hier und Jetzt möglich. Ein solches Programm, das angemessene Maßnahmen fordert, also so radikal ist wie die Krise, wäre ehrlicher und hätte der Mobilisierung geholfen.
4. Gewerkschaften in die Offensive
Die Gewerkschaften müssen aus der schwachen Mobilisierung die richtigen Schlüsse ziehen. Nicht noch vorsichtiger, sondern offensiver! Eine kämpferische Kampagne in den Betrieben und in den Nachbarschaften, gemeinsam mit den linken Bündnissen gegen Preissteigerungen, die es in vielen Städten gibt, hätte das Potenzial, in den nächsten Monaten deutlich stärker zu mobilisieren als an diesem Wochenende.
Die SAV war mit Mitgliedern in Düsseldorf, Berlin, Hannover und Stuttgart vertreten. Wir haben unsere Aktionszeitungen gegen Preissteigerungen verteilt und ein sehr gutes Echo dafür bekommen. Wir arbeiten in lokalen Bündnissen gegen Preissteigerungen mit und argumentieren dafür, die Tarifbewegungen Metall und Elektro sowie im öffentlichen Dienst dafür zu nutzen, die Kämpfe um höhere Löhne und für niedrigere Preise zu verbinden. Denn am Ende sind es die Kolleg*innen in den Betrieben, die mit Streiks das größte Druckmittel in der Hand halten – wenn die Gewerkschaftsführungen ihre Hasenfüßigkeit aufgeben.