Müde, schmutzige Menschen hocken in einem Schützengraben. Es ist kalt. Das Donnergrollen der Artillerie, mal weit entfernt, mal viel zu nah, wechselt sich ab mit den Flüchen der Soldat*innen, die viel zu viele ihrer Freund*innen bereits verloren haben. Eine Szene, wie sie sich 1916 bei Verdun ebenso hätte abspielen können wie 2022 bei Bachmut.
Von Sebastian Rave, Bremen
Man könnte es dabei belassen und schulterzuckend irgendein abgeschmacktes Zitat zum Grauen des Krieges und der Natur des Menschen aufsagen. Wir wollen aber der Sache auf den Grund gehen. Halten wir es mit Marx: „Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“. Was also ist das Wesen, der Charakter dieses Krieges?
Diese Frage hat praktische Konsequenzen. Kann eine Seite des Krieges unterstützt werden? Sollten Waffen an eine Kriegspartei geschickt werden? Linke können zu solchen Fragen nicht schweigen. Kriege sind Momente größter Krisen der kapitalistischen Gesellschaft. Häufig sind daraus Revolutionen entstanden, die ganze Reiche umgestürzt haben. Fehler in der Analyse oder in der Programmatik können die Linke von den gesellschaftlichen Prozessen isolieren und zum Scheitern von Revolutionen führen.
Verteidigungs- und imperialistische Kriege
So sehr sich Kriege auf der Erscheinungsebene ähneln, so unterschiedlich können sie vom Wesen sein. Alleine die zwei kriegsführenden Parteien eines Krieges können sich drastisch unterscheiden, selbst wenn die gleichen jungen Gesichter mit den gleichen mörderischen Waffen aufeinander schießen. Ein reiches Land überfällt ein armes Land, um es politisch und ökonomisch zu unterwerfen. Die Soldat*innen des Invasoren führen Befehle aus, mal mehr, mal weniger überzeugt. Für die Menschen des überfallenen Landes ist hingegen die Verteidigung ihres Zuhauses, ihrer Familien die Motivation, in den Krieg zu ziehen. In einem solchen Fall hat die überfallene Seite natürlich das Recht, sich zu verteidigen. Es ist unschwer zu erkennen, dass dieses Szenario auch auf Teile des Krieges in der Ukraine zutrifft.
Aber es gibt noch ein anderes anderes Szenario: Wenn die Interessen konkurrierender Großmächte aufeinander prallen und es zu einem imperialistischen Krieg kommt. So war es im 1. Weltkrieg, wo Arbeiter*innen in den Krieg geschickt wurden, um den Konkurrenzkampf der englischen, französischen, deutschen und österreichischen Banken und Konzerne auf dem Schlachtfeld auszutragen. In einem solchen Fall kann keine der Kriegsparteien unterstützt werden. Karl Liebknecht brachte es damals auf den Punkt: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt’s für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht.“
Blockbildung
Ohne Frage treffen in der Ukraine auch die Interessen verschiedener imperialistischer Mächte aufeinander: Russland ist eine Mittelmacht mit riesiger Armee, aber zweitklassiger ökonomischer Leistung. Auf der anderen Seite die NATO-Verbündeten, die alle Mittel ausschöpfen, um Russland in der Ukraine eine herbe Niederlage zuzufügen – mit Sanktionen, Aufklärungsdaten und Waffenlieferungen. Die USA an vorderster Front, die EU-Staaten etwas zögerlicher angesichts der Auswirkungen des Krieges auf Europa. Im Hintergrund China, das ansetzt, die USA als Weltmacht Nr. 1 wirtschaftlich und irgendwann auch militärisch zu überholen.
Die angespannte Weltlage zwischen den imperialistischen Mächten hatte sich vor dem Krieg schon in heftigen Wirtschaftskonflikten ausgedrückt. Statt neoliberaler Globalisierung mit Freihandel und Offshoring regierten jetzt Strafzölle, Sanktionen und Importverbote – ein Prozess der Entkopplung der Weltwirtschaft hatte begonnen. Die beiden Pole der Entwicklung: China und die USA. Beide versuchen, ihre Einflusssphären zu vergrößern und zu konsolidieren.
Zwei Blöcke bilden sich heraus: Die NATO-Staaten und ihre Verbündeten im Nahen Osten sowie Japan und Australien auf der einen Seite. Auf der anderen Seite China, Russland, Iran, Brasilien, Südafrika, sowie viele Länder der Belt and Road Initiative. In beiden Blöcken gibt es Differenzen, und viele Länder versuchen sich zwischen den Blöcken zu positionieren. Die „Neue Weltordnung“, die „Pax Americana“ ist vorbei, und wird ersetzt von einer „Ära der Unordnung“. 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges hat ein Neuer Kalter Krieg begonnen.
Schwere Waffen verändern die Lage
Vor diesem Hintergrund begann der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar, begründet mit chauvinistischer, großrussischer Ideologie, weil die Ukraine die vollständig und nachhaltig aus dem Einflussbereich Russlands zu schwinden drohte. Die blitzartige Invasion der militärisch überlegenen russischen Armee schien unaufhaltbar. Doch die Einnahme Kiews scheiterte, unter anderem daran, dass sich zehntausende Ukrainer*innen freiwillig meldeten, um ihre Heimat vor der russischen Fremdbestimmung zu verteidigen. Die mit der Ukraine verbündeten NATO-Staaten zögerten zu Beginn bei der Lieferung schwerer Waffen, auch in der Angst, dass Russland diese bei einem unausweichlich scheinenden Sieg erobern würde. Allerdings wurde die Ukraine schon vor dem Krieg von der USA mit Panzerabwehr-Raketen ausgestattet – und nach der erfolgreichen Verteidigung von Kiew bekamen diese Lieferungen eine neue Qualität. Ab Mitte März lieferten NATO-Mitgliedsstaaten massenhaft Javelin-Raketen zur Panzerabwehr sowie Mistral und Stinger-Flugabwehr-Raketen. Im immer noch asymmetrischen Krieg konnte die ukrainische Armee, auch gestützt auf die Hilfe der lokalen Bevölkerung, aber auch US-Amerikanischer Aufklärung, der russischen Armee, die mit langen und empfindlichen Nachschublinien zu kämpfen hatte, schwere Verluste erteilen. Russland zog sich schließlich zurück und beschränkte seine Offensive auf den Osten des Landes.
Der Blitzkrieg mit Panzern und Flugzeugen war durch die massenhaften, vergleichsweise günstigen tragbaren Panzer- und Flugabwehrwaffen abgewehrt. Der Krieg veränderte seine Erscheinung und wurde zum „altmodischen“ Stellungskrieg mit Schützengraben und Artillerieduellen – eine der Stärken der russischen Armee. Über Monate bewegte sich die Frontstellung nur wenig. Landstriche wurden verwüstet, der „Fleischwolf“ verschluckte zehntausende Menschenleben.
Der September brachte einen Wendepunkt. Die ukrainische Armee war von den NATO-Verbündeten mittlerweile mit schweren Waffen ausgerüstet, die den Unterschied machten: Haubitzen aus Deutschland (Panzerhaubitze 2000), Polen (Krab), Frankreich (CAESAR), Britannien (M777) sowie Raketenartillerie aus den USA (HIMARS) plus hunderttausender Schuss Munition – all das im Wert von vielen Milliarden Euro. Diese Waffensystem haben dafür gesorgt, dass die Ukraine die Artilleriehoheit im Stellungskrieg gewonnen hat. Die großen Durchbrüche der Ukraine bei Charkiw und Cherson wären ohne diese nicht möglich gewesen.
Zwischenimperialistischer Krieg
NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat im Laufe des Krieges geäußert, dass Putin mehrere strategische Fehler gemacht habe, unter anderem habe er „das Engagement der NATO-Verbündeten zur Unterstützung der Ukraine unterschätzt“. Es wäre naiv zu glauben, dass das Motiv dieser Unterstützung irgendetwas mit Werten, Demokratie und Freiheit zu tun habe. Es geht um geostrategische Interessen. Die NATO nutzt die Aggression seines imperialistischen Konkurrenten, um das Lager Russland-China zu schwächen.
Der Krieg in der Ukraine hat zwei zentrale Charakteristika. Die Mehrheit der Menschen in der Ukraine sieht ihn als Befreiungskampf gegen die russische Invasion, und viele Menschen weltweit mit ihnen. Das dominierende Merkmal, das den Kriegsverlauf und das Wesen dieses Krieges bestimmt, ist aber der zwischenimperialistische Charakter.
Es wird keine wirkliche Unabhängigkeit geben, wenn es die NATO ist, die die russische Armee aus dem Land wirft. Die milliardenschweren Waffenlieferungen schickt die NATO nicht aus Selbstlosigkeit. Nach dem Krieg kommt die Rechnung. Die Ukraine würde zum hochgerüsteten, aber überschuldeten Vasallenstaat westlicher Mächte werden. Wenn die Menschen dann erschöpft aus ihren Schützengräben steigen, um in ihre Städte zurückzukehren, wird sie der nächste Kampf erwarten: Der gegen verschärfte Ausbeutung, Austerität und Verarmung. Spätestens dann wird klar, dass der Hauptfeind im eigenen Land steht.
Foto: Graben der ukrainischen Armee bei Bachmut, November 2022. Viktor Borinets, mil.gov.ua