Vom 27. April bis zum 7. Mai 1992 dauerte der nach 1973 zweitgrößte Streik im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik. Auf dem Höhepunkt waren 330.000 Beschäftigte im Streik. Das öffentliche Leben war teilweise lahmgelegt, Busse und Bahnen fuhren nicht, der Müll blieb liegen, Kitas waren geschlossen. Der Streik endete mit einer Lohnerhöhung von 5,4 % – und viel Unmut in der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ötv), der Vorläuferin von ver.di. Viele Beschäftigte forderten mehr Prozente, 55 % der Streikenden stimmten bei der Urabstimmung gegen den Kompromiss.
Von Claus Ludwig, Köln
Vor dem Hintergrund einer für damalige Verhältnisse hohen Inflation von 4,6 % ging die ötv mit der Forderung nach 9,5 % höheren Löhnen in die Verhandlungen, zudem wollte sie 550 D-Mark mehr Urlaubsgeld durchsetzen. Die Gewerkschaften der Bahn und der Post schlossen sich an. Der Wirkungsbereich des damaligen Bundesangestellten-Tarifs (BAT) war weit größer als der des heutigen TVÖD (Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes), der lediglich für Bund und Kommunen gilt, aber nicht für die Länder, die Post oder die Bahn. Insgesamt waren über 5 Millionen Beschäftigte von den Verhandlungen betroffen, im TVÖD heute sind es 2,5 Millionen.
Blockade der Arbeitgeber
Die Arbeitgeber boten zunächst nur 3,5%, später 4,8%. Es wurde ein Schlichtungsverfahren eingeleitet, die ötv akzeptierte den Schlichterspruch von 5,4%, die öffentlichen Arbeitgeber lehnten ab. Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst war die erste in 1992, die Arbeitgeber wollten diese nutzen, um insgesamt die Hoffnungen auf höhere Löhne zu drücken. Die Zeitung VORAN (Vorläuferin von sozialismus.info) zitierte einen Kölner Gewerkschaftsfunktionär: „Vor vier Wochen erwarteten wir eine Lohnrunde wie jedes Jahr, mit dem üblichen Ergebnis durch Verhandlungen, das wir dann mit Bauchschmerzen an die Mitglieder verkaufen müssten. Drei Tage später wurde klar, dass es nicht nur um ein Prozentpunkte ging, sondern um den Versuch der Regierung und Arbeitsgeberverbände, die ötv als Brechstange zu nutzen.“
Am 26. April begann nach vorheriger Urabstimmung mit einer Zustimmung von 89 % bis 96 % in den verschiedenen Bereichen der Arbeitskampf. Ein großer Teil der Binnenschifffahrt wurde lahmgelegt. Am Ende des Streiks fuhren nur 25 % der Züge, obwohl die verbeamteten Lokführer*innen selbst nicht streiken durften. Eine Handvoll Feuerwehrleute und Sicherheitspersonal schlossen den Frankfurter Flughafen für 24 Stunden, allein das verursachte einen Verlust von 40 Millionen. Allein am ersten Streiktag traten 30.000 neue Mitglieder in die ötv ein. Solch ein massiven Arbeitskampf im öffentlichen Dienst hatte es bis dahin nur einmal gegeben, 1973.
Es gelang der Politik und den Medien nicht, eine Stimmung gegen die Streikenden zu schüren. Stattdessen wurde darüber diskutiert, welch wichtige Jobs Müllwerker*innen und Pflegepersonal machen. Besonders die migrantischen Beschäftigten fühlten sich durch den gemeinsamen Kampf ermutigt. 1991 hatte es eine erste große rassistische Welle gegeben, mit Anschlägen und Hetze, nun standen türkische oder osteuropäische Beschäftigte gemeinsam mit den deutschen Kolleg*innen am Streikposten. Zumindest zeitweise trat der rassistische Diskurs in den Hintergrund.
Die Streiktaktik der ötv war zurückhaltend. Erst nach und nach wurden Beschäftigte einbezogen. Es war zwar richtig, erst mit den erfahrenen Schichten wie den Bus- und Bahnfahrer*innen zu beginnen, aber die Ausweitung hin zum Vollstreik wäre möglich gewesen. Einige Kolleg*innen warteten nicht auf Anweisung „von oben“, die Müllwerker*innen gingen eigenständig in den Streik. Als frustrierend erlebten Beschäftigte die Taktik, erst in den Streik und dann einige Tage später wieder zurück an die Arbeit geschickt zu werden. In einem unbefristeten, durch eine Urabstimmung abgesicherten Streik sollte die Haupttendenz die Ausweitung sein, Kolleg*innen sollten nicht ohne konkrete Gründe aus der Streikfront herausgenommen werden. Angesichts der Kampfbereitschaft und der Selbstermächtigung der Kolleg*innen wuchs im ötv-Apparat möglicherweise die Angst, die Kontrolle zu verlieren und die Geister, die man gerufen hatte, nicht wieder einfangen zu können.
Keine Routine
Die Wucht des Streiks zwang die Arbeitgeber zurück an den Verhandlungstisch. Sie akzeptierten das Schlichtungsergebnis einer Erhöhung um 5,4 % ab Mai 1992 und boten eine Einmalzahlung von 600-700 D-Mark für die Monate Januar bis April, einer Erhöhung des Urlaubsgelds um 200 Mark und der Ausbildungsvergütung um 150 Mark.
Die Führung der ötv um die damalige Vorsitzende Monika Wulf-Mathies akzeptierte das Angebot und hoffte, damit die Sache beenden zu können. Man hatte gefordert, auf den Putz gehauen und sich am Ende in der Mitte getroffen, heftiger als normal, aber noch im Rahmen. Die ötv-Führung beendete den Streik. Die Urabstimmung über die Annahme sollte ein formaler Akt sein. Doch 55 % der Streikenden stimmten gegen das Ergebnis. Nach damaliger Satzung der ötv wäre der Kompromiss damit hinfällig und Vorstand und Tarifkommission hätten die Fortführung des Streiks in Angriff nehmen müssen. Doch sie verweigerten dies. Am Ende wurde der Tarifvertrag unterschrieben. Die Beschäftigten hatten zwar die Kraft gehabt, die Blockade der öffentlichen Arbeitgeber zu durchbrechen und bei der Urabstimmung der Gewerkschaftsführung einen Denkzettel zu verpassen, aber die Kraft von unten reichte nicht, um den Streik gegen den Willen der eigenen Führung selbstorganisiert fortzusetzen.
Für demokratische und kämpferische Gewerkschaften
Der Streik im öffentlichen Dienst ebnete den Weg dafür, auch in der Metallindustrie und anderen Branchen einen Reallohnverlust zu verhindern, aber materiell kam für die Streikenden wenig dabei raus. „Lohndiktat gebrochen, aber Früchte des Sieges verschenkt“, so titelte die VORAN. Gewerkschaftspolitisch war dieser Streik ein Einschnitt. Die Stimmung in den bis dato recht braven Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes wurde kritischer, mehr Kolleg*innen waren misstrauisch gegenüber dem Apparat.
Mitglieder in der ötv und später in ver.di forderten eine Demokratisierung der Organisation und einen kämpferischen Kurs, der die Forderungen der Basis stärker berücksichtigt. Sie konnten sich damit zwar nicht durchsetzen, aber bis heute blitzt in ver.di dieser rebellische Geist immer wieder auf, zuletzt bei den Kämpfen um Entlastungstarifverträge in den Kliniken in Berlin und NRW. Der Streik von 1992 hat zumindest indirekt dazu beigetragen.
Die Ausgangsbedingungen heute sind anders. In den Wirkungsbereich des TVÖD, dessen Lohntabellen seit Januar 2023 neu verhandelt werden, fallen lediglich die Beschäftigten von Bund und Kommunen. In den 2000er Jahren hatte sich ver.di auf die Abspaltung der Länder-Beschäftigten in den TV-L eingelassen. Auch Post und Bahn haben eigene Tarifrunden. Doch die Kolleg*innen in den Kommunen und im Bund haben noch immer die Möglichkeit, Druck zu erzeugen, denn eine Stadt ohne Busse, Straßenbahnen, Kitas und Müllentsorgung beweist schon am ersten Tag, wie wichtig die Arbeit der Kolleg*innen ist. Auch heute wäre die Stimmung in der Bevölkerung positiv. Ein entschlossener Kampf im öffentlichen Dienst könnte sogar zum Fokus im Kampf gegen den inflationären Lohnverlust werden.