Ein Jahr Ukraine-Krieg
Kaum ein Tag vergeht ohne Sirenengeheul in den ukrainischen Städten. Die russischen Angriffe auf die Infrastruktur führen zu ständigen Stromausfällen, Menschen müssen sich vor Bomben und Raketen in Kellern und U-Bahnhöfen verstecken. Kein Tag, ohne dass junge Menschen in Uniform plötzlich aus dem Leben gerissen werden. Schätzungen gehen von 40.000 getöteten Zivilist*innen und von mehr als jeweils 100.000 getöteten und verwundeten Soldat*innen auf beiden Seiten aus, Millionen Menschen sind auf der Flucht. Der Horror des Krieges muss so schnell wie möglich aufhören. Dafür können wir auch in Deutschland kämpfen.
Von Sebastian Rave, Bremen
Die Invasion am 24. Februar 2022 hat viele überrascht – auch uns. Dabei waren wir nicht so naiv zu glauben, dass es im 21. Jahrhundert keine großen Kriege geben würde, im Gegenteil. Wenige Wochen vor dem Krieg schrieben wir: „Die erneute Zuspitzung der Ukraine-Krise findet vor dem Hintergrund zunehmender globaler Spannungen statt. Die Krise verschärft den imperialistischen Konkurrenzkampf. Die Interessen der Weltmächte prallen aufeinander. Das Potenzial einer gewalttätigen Entladung dieser sich immer weiter aufbauenden Spannungen nimmt täglich zu.“
Der Neue Kalte Krieg und seine Stellvertreter
Wenn der Ausbruch des Ukraine-Krieges das Gewitter ist, das schon vorher in der Luft lag, ist der Neue Kalte Krieg zwischen den USA und China der Klimawandel. Das Zeitalter der neoliberalen Globalisierung ist vorbei, der Nationalstaat ist zurück: In Form von riesigen, aufeinander gerichteten Zerstörungsarsenalen. Die beiden taumelnden Weltmächte USA und China rüsten auf, betreiben geopolitische Blockbildung, versuchen Verbündete an Land zu ziehen und Rivalen zu schwächen. Der Ukraine-Krieg ist sowohl Ausdruck als auch Katalysator dieses Prozesses.
Auch wenn China sich darum bemüht, in diesem Krieg neutral zu erscheinen: Russland ist eng mit China verbündet. Die Russisch-Chinesische Flottenübung mit Südafrika in diesen Wochen stellt das deutlich unter Beweis. In den ersten 10 Monaten des Krieges ist der bilaterale Handel um 31% gestiegen – auch wegen der westlichen Sanktionen.
Deutschland, das starke wirtschaftliche Beziehungen sowohl mit den USA als auch mit China und Russland (hier v.a. Energieimporte) hatte, hat sich nach scheinbarem kurzen Zögern entschieden auf die Seite des historischen Verbündeten USA geschlagen. Insgesamt ist die NATO durch den Krieg enger zusammengerückt, Differenzen zum Beispiel um den NATO-Beitritt Schwedens bleiben im Hintergrund aber bestehen. Gleichzeitig nehmen die Spannungen zwischen den USA und China deutlich zu, das illustriert der Umgang mit den mutmaßlichen Spionageballons und der Konflikt um das geostrategisch bedeutende Taiwan.
Putins Illusion, die Ukraine im Handstreich zu erobern, scheiterte nicht nur am Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung, sondern auch an keineswegs uneigennütziger westlicher Unterstützung gegen den imperialistischen Rivalen in Form von Aufklärung, Ausbildung und Waffensystemen. Letztere beschränkten sich zunächst auf handgestützte Panzer- und Luftabwehrwaffen, mit denen immer wieder die überdehnten russischen Kolonnen angegriffen wurden, was dazu beitrug, dass die russische Armee zum Rückzug in den Osten des Landes gezwungen wurde. In der zweiten Phase des Krieges machten westliche schwere Waffensysteme den Unterschied, größere Gebiete wurden durch die Ukraine zurückerobert. Je mehr Waffen von NATO-Verbündeten gesendet werden, desto stärker wird der Charakter des zwischenimperialistischen Kriegs. Oder um es mit Baerbock zu sagen: “Wir sind im Krieg mit Russland”. Der Krieg wurde vom Krieg Russlands gegen die Ukraine zum Krieg zwischen Russland – mit China im Hintergrund – und der NATO-Verbündeten UM die Ukraine.
Keine Held*innen, nur Tote
Seit der Rückeroberung Chersons sind die Fronten eingefroren. In der Knochenmühle der Schützengräben im Donbass werden die Menschenleben zehntausender Soldat*innen auf beiden Seiten für wenige hundert Meter Geländegewinn verheizt. Das Dauerfeuer der russischen Artillerie wird mit ukrainischer Gegenartillerie beantwortet, gefüttert mit Lieferungen aus dem Westen – soweit, dass NATO-Staaten klagen, dass ihnen ihre Munitionsreserven ausgehen. Es gibt Berichte, nach denen bei Munitionsmangel der Sturm befohlen wird: Junge, verängstigte Menschen werden gezwungen, auf ihre Altersgenoss*innen loszurennen, die ebenso verängstigt sind, um den Heldentod mit Bauchschuss im Schlamm zu sterben.
Auch die Leopard-2-Panzer werden an dieser Situation nichts grundlegendes ändern, aber dazu führen, dass die – überaus profitable – Rüstungsindustrie in Deutschland hochgefahren wird. Das gleiche passiert parallel in Russland, wo Panzer im Drei-Schicht-System gebaut werden.
Keine Seite kann diesen brutalen Abnutzungskrieg gewinnen. Zu dieser Einschätzung kommt auch der Generalstabschef der US-Armee General Mark Milley. Das Kriegsziel Russlands, die Unterwerfung der Ukraine, ist ebenso unerreichbar wie das Kriegsziel der Ukraine, den vollständig befestigten Donbass und die uneinnehmbare Halbinsel Krim zurückzuerobern – zudem mutmaßlich gegen den Willen des Großteils der lokalen Bevölkerung. Dieser Krieg kennt nur zwei Ausgänge: Entweder eine weitere militärische Eskalation, möglicherweise über die Grenzen der Ukraine hinaus, möglicherweise mit dem Einsatz von Atomwaffen, oder – wenn der innenpolitische Druck zu groß wird – ein Verhandlungsfrieden.
Kriegsmüdigkeit
Dieser Druck steigt mit jedem Toten, mit jeder Mobilisierungswelle. Auf beiden Seiten gibt es Berichte von zunehmender Fahnenflucht von Soldat*innen, die ihr Leben nicht für ein paar Kilometer Frontverschiebung wegwerfen wollen. Ukrainische “wehrfähige” Männer werden auf der Straße festgenommen und gegen ihren Willen an die Front gezerrt. Zehntausende fliehen vor der Einberufung aus der Ukraine, teilweise mit falschen Pässen oder als Frau verkleidet. In Russland sind es sogar noch mehr: Kovcheg (“Arche”, eine Hilfsorganisation für russische Migrant*innen) schätzt, dass seit dem Krieg etwa 1,5 Millionen Russ*innen das Land verlassen haben. Die Lösung des Putin-Regimes, “Freiwillige” in den Gefängnissen zu finden, ist erschöpft. In der Ukraine gibt es Proteste gegen die Verschärfung von Strafen für Deserteure – eine Petition gegen das Gesetz 8271, das 3-9 Jahre Gefängnis für das Missachten von Befehlen Vorgesetzter vorsieht und bis zu 12 Jahre für “Desertion unter feindlichem Feuer”, sammelte 35.000 Unterschriften. In Russland flackern trotz Repression immer wieder Proteste gegen Einberufungen auf, dazu kommen vereinzelte Sabotageakte gegen Militärtransporte.
In den NATO-Staaten nehmen aufgrund der Gefahr der Eskalation Ängste und Unmut zu. Dabei ist die Stimmung widersprüchlich: Eine Mehrheit befürwortet aktuell die Aufrüstung der Bundeswehr, und, nach wochenlangem medialen Dauerfeuer, auch die Lieferung von Kampfpanzern. Gleichzeitig lehnen es die meisten ab, Kampfjets an die Ukraine zu liefern. Und schon jetzt befürchten nach einer von Greenpeace beauftragten repräsentativen Umfrage 66%, dass höhere Ausgaben für die Bundeswehr zu Einschnitten in anderen Bereichen wie Klimaschutz oder Soziales führen werden. Der Rückhalt für die immer weitere Militarisierung wird weiter bröckeln, wenn klar wird, wer dafür am Ende zahlen muss. Laut SPIEGEL gibt es Stimmen im Verteidigungsministerium, die „fürchten“, dass Tariferhöhungen im Öffentlichen Dienst den Spielraum für Investitionen in die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr schmälern.“ Die Militarisierung nach außen geht also mit einer Militarisierung nach innen einher. Und zahlen sollen – wie immer – diejenigen, die jeden Tag zur Arbeit gehen.
Höchste Zeit, diesen Zustand zu ändern. Je länger der Krieg geht und je höher die Kosten werden, die die arbeitende Bevölkerung in allen beteiligten Ländern durch Tod und Zerstörung, Inflation und Sozialkürzungen zahlt, desto dringender wird die Notwendigkeit, eine neue Antikriegsbewegung aufzubauen. Eine Antikriegsbewegung, die diese sozialen Fragen in den Fokus nimmt. Eine Antikriegsbewegung, die die eigenen Herrschenden angreift, und zusammengeht mit den Antikriegsbewegungen in den anderen kriegführenden Ländern, die ihre jeweils Herrschenden angreifen. Eine internationalistische und notwendigerweise auch antikapitalistische Antikriegsbewegung.