Wahlen in der Türkei: Wackelt Erdoğan Bonaparte?

Am 14. Mai finden in der Türkei sowohl Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen vor dem Hintergrund von Erdbeben und anhaltenden wirtschaftlichen Problemen statt. Schon das Datum ist ein Symbol für den Machtanspruch Erdoğans. Es soll an den historischen Sieg der islamistischen „Demokratischen Partei“ über die damals scheinbar übermächtige, säkulare CHP (Republikanische Volkspartei) am 14. Mai 1950 erinnern. Deshalb hat er die Wahl auch auf dieses Datum vorziehen lassen. Pathos hat Erdoğans auch bitter nötig, denn obwohl er sich noch immer als „starker Mann“ präsentiert, bekommt dieses Image immer größere Risse und die brutale Realität seiner reaktionären und brutalen kapitalistischen Politik wird sichtbarer.

Von Patrick Haas, Siegburg

Schon vor dem Erdbeben spitzten sich die wirtschaftlichen Probleme zu, die Inflation erreichte im November 2022 laut offiziellen Angaben 84,4%, besonders bei Nahrungsmitteln. Gleichzeitig arbeiten 60 % der Angestellten im Privatsektor zum Mindestlohn von 275 Euro monatlich. Widerstand war nur eine Frage der Zeit und entlud sich in landesweiten Protesten vor allem am Tag zur Überwindung der Gewalt gegen Frauen am 25. November 2022 mit Tausenden Festnahmen und in einer Streikwelle in diesem Jahr.

Der Umgang des Erdoğan-Regimes mit dem Erdbeben im Februar 2023 setzte der Wut die Krone auf. Anstatt Hilfslieferungen zu organisieren oder die Menschen mit lebensnotwendigen Gütern wie Zelten oder Nahrungsmittel zu versorgen, verteilte die AKP Koran-Bücher und Spielzeug. Dieser Zynismus in Verbindung mit den Verstrickungen zur Baulobby, in deren Taschen Millionen an Steuergeldern verschwunden sind, führte auch Unterstützer*innen der AKP die Inkompetenz des Erdoğans-Regimes vor Augen. Erdoğans reagierte indes mit der Präsentation des ersten Flugzeugträgers der Türkei.

Rechts gegen rechts

Politisch stehen sich zwei Blöcke gegenüber: einerseits das breite Sechsparteienbündnis, der sogenannte „Sechsertisch“, um die sozialdemokratisch-nationalistische CHP. Dessen zentrale Gemeinsamkeit ist „alles außer Erdoğan“. Es umfasst neben der CHP die nationalistische IYI-Partei von Meral Akşener und die islamistische Saadet Partisi, die mit der fundamentalistischen Gemenschaft Millî Görüş verbunden ist. Gemeinsamer Kandidat des Bündnisses ist Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP, der ehemalige Leiter der Türkischen Sozialversicherungsbehörde. Er tritt als der „Anti-Erdoğan“ auf: Ruhig, integer und fachkompetent. Eine Mischung, die anzukommen scheint: In Umfragen liegt das Bündnis vom „Sechsertisch“ vor dem Bündnis von Erdoğan. Allerdings braucht Kılıçdaroğlu am Ende sowohl die Stimmen von Nationalist*innen und enttäuschten Islamist*innen als auch vieler Kurd*innen. Dieses umfasst neben Erdoğans AKP die rechtsextreme, ultranationalistische MHP und die islamistische BBP. Eine brisante innere Dynamik, denn das Erdoğan-Regime wird immer gefährlicher, umso mehr es unter Druck gerät. Um sich an der Macht zu halten setzt der Autokrat auf die rechtesten Kräfte und intensive Angriffe auf nationale Minderheiten und Frauen. Es gab unmittelbar nach dem Erdbeben militärische Angriffe auf kurdische Gebiete und sowohl MHP als auch BBP wollen die letzten noch verbliebenen Regeln zum Schutz vor Gewalt an Frauen abschaffen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass Erdoğan – ähnlich wie Trump oder Bolsonaro – bei einer Wahlniederlage seine Position einfach räumt oder überhaupt eine „faire“ Wahl zulässt, wenn eine Wahlniederlage droht.

Kurdische Bewegung und „kleineres Übel“

Die linke, kurdische Partei HDP versucht in dieser Konstellation die Quadratur des Kreises. Sie ist selbst einem Verbotsverfahren ausgeliefert und tritt daher nicht unter dem eigenen Namen zu den Parlamentswahlen an. Ihre Mitglieder kandidieren auf der Liste der kleinen Grün-linken Partei (Yeşil Sol Partisi, YSP). Dieses linke Bündnis stellt keine*n eigene*n Kandidat*in zu den Präsidentschaftswahlen auf, unterstützt damit faktisch Kılıçdaroğlu und übernimmt damit die Logik „alle außer Erdoğan“.

Für das ist ein Drahtseilakt für das linke Bündnis um die HDP: Die Umfragen zeigen einen starken Zusammenhang zwischen den Umfragewerten für Kılıçdaroğlu und der YSP – steigen die Umfragewerte für Kılıçdaroğlu, sinken diejenigen der YSP. Da bei den Wahlen die 7%-Hürde gilt, ist für die YSP-Liste jede Stimme entscheidend, um im Parlament vertreten zu sein. Seit 2017 ist auf der Linken die TİP (Türkiye İşçi Partisi, Arbeiter*innenpartei der Türkei) auf über 10.000 Mitglieder gewachsen und war in Kämpfen für die Rechte von Frauen und der kurdischen Bevölkerung präsent. 2018 kandidierte sie noch auf den Listen der HDP und errang zwei Mandate. Durch Übertritte von CHP und HDP wuchs ihre parlamentarische Präsenz auf vier. 2023 stellt sie auch eigene Kandidat*innen außerhalb der YSP-Liste auf, der Vorsitzende Erkan Baş hat 3 % als Wahlziel ausgegeben. Auch die TİP ruft zur Wahl von Kılıçdaroğlu auf. Die informelle Unterstützung für Kılıçdaroğlu könnte sich als gefährlicher Trugschluss erweisen. Dies gilt umso mehr, wenn man die Bündnispartner*innen ins Auge fasst: Denn in ihrem Nationalismus bestehen in den beiden Blöcken nur marginale Unterschiede. Auch die CHP und andere Parteien aus dem Oppositionsbündnis unterstützen Unterdrückung und Militäreinsätze in kurdischen Gebieten. Beide Blöcke streben nur eine andere Strategie für den türkischen Kapitalismus an: Erdoğan mit Wirtschaft auf Pump und niedrigen Zinsen, Kılıçdaroğlu mit eher konventionellen Maßnahmen, verpackt mit der Expertise eines hohen Verwaltungsbeamten.

Echte Alternative nur von unten

Es ist nachvollziehbar, dass sich dennoch Millionen türkische Arbeiter*innen, Jugendliche und Frauen nach Jahrten des AKP-Despotismus nach einer Alternative sehnen. CHP, Kılıçdaroğlu und der „Sechsertisch“ sind diese Alternative jedoch nicht. Selbst, wenn diese eine parlamentarische Mehrheit gegen Erdoğan zustande bekämen und es schaffen würden, ihre inneren Widersprüche im Zaum zu halten, stünde diese Regierung vor gewaltigen Problemen wie einer brachliegenden Wirtschaft, Massenarmut und grassierender Korruption.

Sofern diese neue Regierung es nicht relativ rasch schaffen würde, die Lebensrealität der Bevölkerung tatsächlich zu verbessern, würde der Boden für die Rückkehr der AKP oder noch stärker reaktionärer Kräfte bereitet werden. Ähnliches sehen wir in Lateinamerika, wo das Scheitern von mitte-links-Regierungen die nicht mit der kapitalistischen Logik brechen, die extreme Rechte immer wieder erstarken lässt. Gute Ergebnisse für die Listen von YSP, TİP oder kleinere sozialistische Kräfte wären ein Schritt nach vorne. Eine echte Alternative zu Armut, Unterdrückung, Krieg und Nationalismus in der Türkei kann nur aus den Klassenkämpfen der arbeitenden Menschen entstehen, aus der Organisierung der Frauen und der Jugend, durch eine gemeinsame Bewegung von türkischen und kurdischen Arbeiter*innen, mit dem Ziel, den Kapitalismus in all seinen Schattierungen zu überwinden.