EVG Mitglied zur Tarifrunde: “Wir werden nicht um einen Erzwingungsstreik herumkommen.”

Alex (24) ist gelernter IT-Systemelektroniker und arbeitet in München als Planer für Informations- und Elektrotechnik bei der Deutsche Bahn (DB). Er ist auch Mitglied der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), die gerade in der Tarifrunde ist. Am 31. Mai gab er sozialismus.info dieses Interview, wo er über seine Sicht auf die Forderungen und Angebote, die Stimmung bei seinen Kolleg*innen, die notwendigen Taktiken und die Klimakrise gesprochen hat. Der Text des Interviews wurde für Klarheit und Kürze überarbeitet. 

Gerade wird 650 Euro mehr Lohn gefordert. Wie stehst du zu der Forderung persönlich? 

Ich diskutiere sehr viel bei uns im eigenen Forum mit. Das ist eine Webseite, DB Planet, auf der regelmäßig Firmenpropaganda hochgeladen wird. Dort kann man zum Glück kommentieren, und da ist unseres Wissens nach bis jetzt keine Zensur großartig geschehen. Da wird sehr viel diskutiert und abgestimmt und die Stimmung zu den 650 Euro ist relativ eindeutig: Das wird als fair empfunden, weil wir alle wissen, dass das Lohnniveau nicht ausreicht. Ich will jetzt gar nicht auf dem Inflationsthema rumreiten, weil jeder das tut. Aber das Hauptproblem ist ja, wo waren denn die Löhne bei der letzten Erhöhung und bei der vorherigen Erhöhung? Fakt ist, wir sind während der Lohnverhandlung in Corona dem Arbeitgeber stark entgegengekommen und haben uns mit 1,5% abspeisen lassen, im Gegenzug dafür, dass keine Arbeitsplätze abgebaut werden. Das ist jetzt natürlich in einem Großteil der Bereiche bei der Bahn, wie Elektrotechnik und Informationstechnik, eigentlich ein bisschen hirnrissig, da wir in Deutschland einen Fachkräftemangel haben. Deshalb die 650 Euro: Das Gehaltsniveau war schon sehr niedrig und jetzt ist die Lage für viele unserer Kolleg*innen noch deutlich prekärer geworden, dadurch dass die Inflation so stark anzieht.

Kommen wir mal zu der Frage des Streiks. Mitte Mai wurde ein dreitägiger Streik vom Sonntag auf Dienstag angekündigt, aber dann wurde er abgesagt. Wie haben du und deine Kolleg*innen darauf reagiert? 

Es war Enttäuschung, Wut und Unverständnis. Der Streik wurde hauptsächlich wegen eines Vergleichs einer Richterin abgesagt, was in einem rechtlich schwierigen Umfeld geschieht.

Ursprünglich war geplant, dass beim 50-Stunden-Warnstreik eine große Anzahl von Gewerkschaftsmitgliedern mobilisiert wird, um ein starkes Signal an die Gesellschaft und andere Organisationen zu senden. Dies hätte ein spektakulärer Umzug sein können. 

Es gibt jedoch auch Kritik von einigen Kolleg*innen an den Warnstreiks, da währenddessen bei der EVG kein Streikgeld ausgezahlt wird. Leider wird der Tarifkonflikt oft auf dem Rücken der ärmsten Kolleg*innen ausgetragen, was auch der Deutschen Bahn bewusst ist.

Politisch gesehen ist dies sehr interessant, da die Bahn bewusst versucht, Streiks zu provozieren, um die öffentliche Unterstützung zu schwächen und die schwächsten Arbeitnehmer*innen zu belasten. Der Schaden entsteht nicht bei der Deutschen Bahn selbst, da sie ihre Verluste von Steuerzahler*innen erstattet bekommt. Die Bahn hat wenig zu verlieren, da sie ein monopolistischer Megakonzern ist, der kein wirkliches Interesse daran hat, wirtschaftlich zu arbeiten.

Die Bahn hat ein Interesse daran, Streiks zu provozieren, um die Arbeitnehmer*innen auszuhungern und die Stimmung in den Betrieben zu kippen. Viele Menschen stehen vor finanziellen Schwierigkeiten und können es sich nicht leisten, erneut Gehaltsausfälle zu haben. Dieser Aspekt des Tarifkonflikts wird oft übersehen.

Trotzdem muss ich sagen, dass der Tenor in der EVG bereits stark auf Konfrontation steht. Intern wurde bereits bei der zweiten Verhandlungsrunde darüber gesprochen, dass die Streikkassen gefüllt sind und wir uns auf einen längeren Streik vorbereiten.

Die Situation ändert sich wirklich jeden Tag. Es gab dieses Angebot von 6% der Deutsche Bahn, und das wurde gestern Abend abgelehnt. Glaubst du, dass die Kollegen ja so mit diesem 6%-Angebot zufrieden gewesen wären? Oder reicht das wegen der Stimmung der Kolleg*innen einfach gar nicht aus? 

Ich verstehe dahingehend die Strategie der Bahn ehrlich gesagt gar nicht. Normalerweise ist das Kernargument der Arbeitgeber*innen: “Ja, wir erhöhen euch das Gehalt um diese sechs Prozent oder was auch immer, aber ab vorgestern.” Also, wir würden dann eine Nachzahlung ab März kriegen. 

Die Bahn weint jetzt Krokodilstränen für all die armen Mitarbeiter*innen, die ihre Gehaltserhöhungen nicht bekommen, weil die EVG sich querstelle. Sie bieten allerdings in ihrem Vorschlag die Gehaltserhöhung ab Dezember an, als ob wir Beschäftigte wirklich die Allerdümmsten der Dümmsten wären. Das zeugt meines Erachtens und vieler Mitarbeiter*innen von einer sehr krassen Respektlosigkeit der Geschäftsführung gegenüber den Mitarbeiter*innen. Auch diesen Inflationsausgleich verkaufen sie, als würde die Bahn sich herablassen und sich gnädigerweise diese Einmalzahlung leisten. Dabei hat sie eigentlich im Kern gar nichts mit den Tarifverhandlungen zu tun. Das ist ein gesetzliches Instrument, um Mitarbeiter*innen temporär zu entlasten. Das ist wirklich bezeichnend: Die Bahn wirft immer wieder Probleme in einen Topf. 

Aber die Stimmung in der Basis ist vor allem jetzt nach diesem Angebot der Bahn von 6% doch geschlossen. Was ich im Internet und im Betrieb höre: so eine Erhöhung kann die Bahn behalten. Man muss es auch noch sagen: die 12% Erhöhung ist natürlich für Kolleg*innen in der niedrigsten Gehaltsgruppe wirklich nicht ansatzweise überhaupt ein Inflationsausgleich, geschweige denn Kompensierung der vorherig existierenden niedrigen Gehaltsniveaus.

In der Vergangenheit hat die Deutsche Bahn versucht, Sonderangebote für die oder andere Berufsgruppen zu geben, um den Streik zu brechen und das Momentum zu schwächen. Also hast du es bei dieser Tarifrunde gemerkt, dass die Deutsche Bahn diese Taktik nutzt? 

Auf jeden Fall. Ein bestimmter Plan, der von der Tarifkommission erwähnt wurde, hat mich besonders schockiert und zeigt, wie stark der Vorstand der Deutschen Bahn dem neoliberalen Gedanken verhaftet ist. Bei den Verhandlungen darf der Arbeitgeber auch Gegenvorschläge machen, aber diese Gegenvorschläge beinhalten oft Punkte, die zuvor nicht auf dem Tisch waren.

Zum Beispiel sind bei den Verhandlungen mit der EVG auch viele kommunale Busunternehmen beteiligt. Die Deutsche Bahn möchte nun einen Fonds für geplante Gehaltserhöhungen einrichten. Dieser Fonds würde sich auf die finanzielle Leistungsfähigkeit der Busunternehmen stützen. Mitarbeiter*innen von Busunternehmen, die gute Geschäftszahlen haben und Gewinne erwirtschaften, würden die Gehaltserhöhung erhalten. Auf der anderen Seite würden Mitarbeiter*innen von ländlichen Unternehmen, die oft Verluste verzeichnen, keine Gehaltserhöhung bekommen. Der Gedanke dahinter ist pervers, als ob der oder die Busfahrer*in dafür verantwortlich wäre, wie viele Fahrgäste einsteigen, als ob die Freundlichkeit oder die richtige Atmosphäre, die Fahrgäste genießen können, nicht ausreichen würden. Dies ist eine der absurdesten Vorschläge des Vorstands.

Die Deutsche Bahn nutzt solche Taktiken häufig. Wenn wir uns als Gewerkschaft nicht mit allen Mitteln verteidigen, versucht das Unternehmen ständig, uns anzugreifen. Sie versuchen, die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten zu verschlechtern und Sicherheitsvorschriften zu reduzieren, entweder durch trojanische Pferde oder direkte Frontalangriffe.

Wir haben auch die Tarifrunde im öffentlichen Dienst gesehen, wo die Tarifrundemit bestimmten politischen Fragen verbunden wurde, wie zum Beispiel diese Warnstreiks im Nahverkehr gemeinsam mit dem Klimastreik von Fridays for Future im März. Gibt es bei der EVG ähnliche Ansätze? Ist die Klimabewegung solidarisch und unterstützt sie die Kolleg*innen?

Innerhalb der Gewerkschaft, besonders bei der Gewerkschaftsjugend, gibt es durchaus eine Zusammenarbeit. Allerdings ist diese Zusammenarbeit auf breiterer Ebene unter den Arbeitern nicht so ausgeprägt. Die Beschäftigten der Deutschen Bahn sind traditionell eher im SPD-Milieu angesiedelt. Innerhalb des Unternehmens ist spürbar, dass bestimmte politische Aussagen, wie beispielsweise die Unterstützung eines Tempolimits, in den Werken nicht besonders beliebt sind. Es besteht ein Bewusstsein dafür, dass der Bahnverkehr als alternativloses Transportmittel der Zukunft betrachtet wird, aber viele sind derzeit nicht bereit, komplett auf die sehr zerstörerische Autoinfrastruktur zu verzichten.

Welchen Effekt könnte es bei der Tarifrunde haben, wenn sich Fridays for Future oder andere Teile der Klimabewegung mit den Kollegen solidarisieren würden?

Ich bin der Meinung, dass dies ein langfristiger Denkansatz ist. Es geht nicht nur um eine einzelne Tarifrunde. Wenn jedes neue Jahr das heißeste Jahr aller Zeiten wird, wird das in Zukunft ein Dauerthema sein. Es ist meiner Ansicht nach wichtig, dass die Arbeiter*innen in allen Bereichen zusammenkommen. Der Megastreik der EVG und ver.di war ein reiner Zufall. Ich denke, dass dies in Zukunft bewusster angestrebt werden sollte. Es ist durchaus denkbar, dass es in Zukunft sogar zu umfassenden Generalstreiks kommen könnte. Ansätze wie die Gelbwestenbewegung in Frankreich könnten auch in Deutschland in Zukunft auftreten, und dies wäre notwendig, um langfristig die Klimaziele konsequent durchzusetzen und gleichzeitig die Arbeitsrechte zu schützen.

Es besteht immer noch die Gefahr, dass Unternehmen ihr Greenwashing auf Kosten der Arbeitnehmer*innen betreiben und Geld in sinnlose Projekte investieren, wie beispielsweise Wasserstoffheizungen für Wohnhäuser oder E-Fuel. Wenn solches Greenwashing stattfindet, wird Geld in andere Projekte gesteckt anstatt in die Mitarbeiter*innen. Die Deutsche Bahn hat beispielsweise bei den letzten Verhandlungsrunden argumentiert, dass die Mitarbeiter*innen Verständnis dafür haben sollten, dass nun ein Investitionsbedarf von 80 oder 90 Milliarden Euro besteht. Man sagt den Mitarbeiter*innen: „Schaut her, wir müssen alle den Gürtel enger schnallen. Wir müssen alle mit anpacken und am besten etwas von eurem Gehalt abgeben, damit wir es in die Infrastruktur stecken können.“ Hier ist eine Zusammenarbeit zwischen der Arbeiter*innenbewegung und dem Klimaaktivismus erforderlich, um solchen Argumenten entgegenzuwirken.

Wir haben die Tarifrunde bis jetzt ein bisschen schon zusammengefasst. Wie hat sich die Stimmung bei den Kolleg*innen über die Zeit sich verändert? War es so ein Hin und Her oder gibt es eine steigende Kampfbereitschaft? Wie schaut die Stimmung im Betrieb aus? 

Das ist schon ein gewisses Auf und Ab gewesen. Am Anfang waren viele noch ein bisschen zwiegespalten. Wir müssen wirklich um jede*n einzelnen Mitarbeiter*in kämpfen! 

Einige Mitarbeiter*innen selbst, vor allem in den höheren Gehaltsbereichen, fanden die Forderungen überzogen, was man auch leider immer wieder hört. Es ist oft so, dass Leute die Bahn als Einstiegstor benutzen, nachdem sie von der Universität kommen, und in fünf Jahren sind sie wieder weg. Deshalb sind sie in der Tarifrunde nicht so engagiert. Das sieht man leider oft. Bei den niedrigen Gehaltsgruppen gibt es Leute, die dann oft auch sehr lange dem Konzern treu bleiben. Diese Kolleg*innen waren von Anfang an kampfbereit und sie wussten auch, worum es geht. 

Auf jeden Fall hat sich die Stimmung mittlerweile ein bisschen gewandelt, dass die Kolleg*innen in den höheren Gehaltsgruppen das ein bisschen als Affront empfinden. Höhere Gehaltsgruppen würden 8 Prozent bekommen. Das wäre beispielsweise auch ich. Das ist dann natürlich nicht sonderlich viel, wenn man sich die Inflation anschaut. Je länger das dauert und je mehr Rhetorik vom Bahnvorstand kommt, desto aufgeheizter wird die Stimmung. 

Heute war dieser Aufschrei, was es oft bei uns gibt, dass Leute dann meinen, dass wir nichts zu verhandeln haben, machen wir mal Urabstimmung und dann geht’s richtig los mit einem richtigen unbegrenzten Streik. Sie sollen ihre Züge selber fahren, nach dem Motto.

Diese Stimmen werden immer lauter und ich glaube ganz ehrlich, dass eine Urabstimmung nicht mehr weit entfernt ist, weil die Stimmung in der Basis, aber auch in Teilen der Gewerkschaftsfunktionär*innen kippt. Wir sind alle langsam frustriert, und wir werden nicht um einen Erzwingungsstreik herumkommen. Allerdings müssen die Rahmenbedingungen vorher stimmen, damit es nur noch um einige wenige klar kommunizierbare Punkte geht und dass der Rest, also diese ganzen neoliberalen Vorschläge von Deutsche Bahn zum Tisch sind. Ab dann können wir wirklich tatsächlich einen Erzwingungsstreik durchführen. 

Gibt es Möglichkeiten, dass die Bevölkerung den Arbeitskampf unterstützt? 

Also was ich finde, was am allerwichtigsten wäre, wäre einfach die Unterstützung der Gesellschaft. In vielen Kreisen bekomme ich von Bekannten auch Sympathiebekundungen. Ich würde mir wünschen, dass Menschen, die gern Bahn fahren, mit ihren Bekannten reden. Es wäre gut, wenn Menschen das zur Aussprache bringen, wie schlecht die Gehälter und Arbeitsbedingungen bei der Bahn sind, und dadurch ein gewisses Verständnis schaffen. Ich glaube, es ist eh mit dem 49 Euro Ticket auf einem guten Weg jetzt, wo bereits 10 Millionen Tickets verkauft wurden. Wenn die Bahn einfach als selbstverständlich und Gemeinschaftsgut angesehen wird, dann werden alle auch wollen, dass das auch gut funktioniert. Dann kann es ein gesamtgesellschaftliches Projekt werden, wo es einfach Konsens ist, dass diese Mitarbeiter*innen dort auch gut behandelt werden. Das wäre in Deutschland echt schön, wenn das so vielleicht auch von den jüngeren Leuten ein bisschen mehr nach oben getragen wird.

Denn wir sind alle Arbeiter*innen, und wir haben uns genug gegenseitig von den Konzernen und vom Staat ausspielen lassen. Es gibt auch keinen Mittelstand oder sowas: wir sind alle Teil des Proletariats und deshalb sollten wir uns auch alle unterstützen, damit wir alle faire Löhne kriegen.

Bild: C.Suthorn / cc-by-sa-4.0 / commons.wikimedia.org