Instrumentalisiert von den Regierungen beider Lager
Am 17. Juni jährt sich der Aufstand in der DDR zum 70. Mal. In der alten BRD wurde dieser Tag als Bewegung für freie Marktwirtschaft und Wiedervereinigung interpretiert und noch bis 1990 als „Tag der deutschen Einheit“ begangen. In der ehemaligen DDR zeichnete die SED-Führung ein Bild eines konterrevolutionären und faschistischen Putschversuches – organisiert durch eingeschleuste Agenten aus dem Westen.
Von Antje Zander, Berlin
Die Herrschenden beider Seiten benutzten so den Arbeiter*innenaufstand zur Legitimation und Ausbau ihrer jeweiligen Positionen. Doch der 17. Juni 1953 war die erste entschlossene Massenbewegung der ostdeutschen Arbeiter*innenklasse gegen bürokratische Misswirtschaft und Unterdrückung und der Versuch, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.
Ostdeutschland nach 1945
Nach der Befreiung vom Faschismus gab es auf Grund der Erfahrung, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem zu Krieg und und einem faschistischen Regime geführt hat, in großen Teilen der deutschen Arbeiter*innenklasse eine starke antikapitalistische Stimmung mit großer Unterstützung für die Idee der Vergesellschaftung der Industrie und den Sozialismus.
So bildeten sich auf dem Gebiet der späteren DDR zu Kriegsende eine Reihe von Antifakomitees – die sich selber oft Räte nannten – welche damit begannen, Betriebe zu kontrollieren und das öffentliche Leben zu organisieren. Diese Anfänge von Arbeiter*innendemokratie wurden durch die Sowjetarmee unterdrückt. Es wurde damit begonnen, ein stalinistisches Regime nach dem Vorbild der Sowjetunion zu errichten. Das bedeutete, das die Wirtschaft zwar verstaatlicht und eine Planwirtschaft etabliert wurde, die Kontrolle der Betriebe und des Staates lag allerdings in den Händen einer nicht gewählten und mit reichlich Privilegien ausgestatteten Bürokratie. Diese bestand zum großen Teil aus von Moskau gelenkten Funktionär*innen der KPD.
Gleichzeitig musste Ostdeutschland für die durch das faschistische Deutschland verursachten massiven Kriegsschäden in der UdSSR aufkommen. 3000 Betriebe wurden demontiert, große Teile der laufenden Produktion wurde direkt die Sowjetunion geliefert. Schätzungsweise bis 100 Milliarden Mark wurden so bis 1953 an die Sowjetunion gezahlt. Das alles führte dazu, dass der Lebensstandard großer Teile der ostdeutschen Arbeiter*innen sich am Rande des Existenzminimums bewegte.
Infolge der im Mai 1952 von der SED beschlossen Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft, der Ausrichtung der Produktion auf die Schwerindustrie und dem kostenintensiven Aufbau eigener Streitkräfte kam es zu einer weiteren Verschlechterung der Lebensbedingungen. Viele Menschen reagierten, indem sie DDR in Richtung BRD verließen, vor allem Bäuer*innen, Handwerker*innen und kleine Gewerbetreibende. Das führte unter anderen dazu, dass Felder brach lagen und sich die Versorgung mit Lebensmitteln weiter verschlechterte. Auf der anderen Seite wurde die Rechte der Arbeiter*innen eingeschränkt. So wurden 1948 mit den „Bitterfelder Beschlüssen“ die Betriebsräte abgeschafft. Die Gewerkschaften wirkten nicht mehr als Interessenvertretung der Arbeiter*innen, sondern waren für die Erstellung der Arbeitsnormen und deren Durchsetzung in den Betrieben zuständig.
Neuer Kurs
Mit dem Tod Stalins im März 1953 und dem veränderten Kurs der Sowjetführung kam die SED-Spitze neben der verschärften innenpolitischen Situation auch außenpolitisch unter Druck. Sie reagierte darauf am 9. Juni mit der Verkündung des „neuen Kurses“. Dieser bedeute vor allem Zugeständnisse an mittlere und kleine Unternehmen. Ihnen wurde zum Beispiel Kredite gewehrt, Steuerrückstände gestundet und teilweise erlassen. Die Bauern durften die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgemeinschaften) verlassen, Mittel- und Großbauern erhielten nach der Rückkehr in die DDR Vermögen und Land zurück. Statt der Schwerindustrie sollte die Konsumgüterindustrie gestärkt werden. Für die Arbeiter*innen jedoch gab es keine Zugeständnisse. Im Gegenteil – am 28. Mai wurde eine Erhöhung der „ Arbeitsnomen“ um 10% beschlossen, faktisch eine drastische Lohnkürzung. Das brachte das Fass zum Überlaufen.
Beginn des Aufstandes
Am 15. Juni traten in Berlin die Arbeiter*innen auf der Baustelle am Krankenhaus Friedrichshain in den Streik. Sie forderten die Rücknahme der 10-prozentigen Normerhöhung. Zuvor hatten sie eine Resolution an den Ministerpräsidenten Otto Grothewohl und an den SED-Generalsekretär Walter Ulbricht verfasst, in der sie eine Aufhebung der Normerhöhung forderten. Eine Antwort bekamen sie nicht.
Stattdessen wurden zwei „Rädelsführer“ verhaftet. Daraufhin verließen am Morgen des 16. Juni die Bauarbeiter*innen – unter ihnen auch viele SED-Mitglieder – die Baustelle, um zum DDR-Regierungsgebäude zu ziehen. Ohne besondere Aufforderung schlossen sich unterwegs immer mehr Bauarbeiter*innen von anderen Baustellen dem Demozug auf der Stalinallee an. Bald marschierten 10.000 zum Regierungsviertel. Dort angekommen versuchte Fritz Selbmann, der Minister für Schwerindustrie, die Demonstrierenden zu beschwichtigen. Er erklärte, dass er sie verstehe , da er früher selbst ein Arbeiter gewesen sei. Daraufhin kamen zwischen Rufe wie: „Das hast du vergessen“ und “Die wahren Kommunisten seid nicht ihr sondern wir“. Ein Bauarbeiter ergriff das Wort und formulierte die Forderungen:
- Verringerung der Arbeitsnorm um mindestens 10%
- Senkung der HO-Preise [die staatliche Handelsorganisation – HO – betrieb die Lebensmittelgeschäfte] für Lebensmittel und Gebrauchsgüter um 40%
- Rücktritt der Verantwortlichen für die falsche Politik, Demokratisierung von Staat und Partei
- Ergreifung der Initiative zur Aufhebung aller Beschränkungen zwischen beiden deutschen Staaten.
Obwohl die Regierung noch am selben Abend die Normerhöhungen zurücknahm, war die Bewegung nicht mehr aufzuhalten.
Am 17. Juni versammelten sich ab sechs Uhr morgens tausende Menschen am Strausberger Platz, um zum Regierungsviertel zu marschieren. Neben den Bauarbeiter*innen legten die Beschäftigten zahlreicher großer Betriebe wie Osram, Bergmann Borsig, das Transformatorenwerk die Arbeit nieder. Als ab 11 Uhr sich die ArbeiterInnen der Verkehrsbetriebe anschlossen, kam der gesamte Verkehr zum Erliegen. Schätzungswiese demonstrierten 150.000 ArbeiterInnen vor dem Haus der Ministerien. 10.000 Arbeiter*innen aus Hennigsdorf und Velten marschierten durch die Westberliner Bezirke Wedding und Reinickendorf, auch in der Hoffnung, das sich die Westberliner Arbeiter*innen anschließen würden. Leider passierte das nicht – unter anderem auch deshalb, weil die Führung der Westberliner Gewerkschaften und der SPD befürchteten, das der Arbeiter*innenaufstand sich auf den Westen ausweitet. So unterstütze zwar der Westberliner DGB-Vorsitzende Ernst Scharnowski in einem Aufruf, der über den Westberliner Radiosender Rias verbreitet wurde, die Forderungen nach Aufhebung der Normerhöhungen. Es wurde ihm aber verboten, zum Generalstreik aufzurufen.
Der Aufstand bereitete sich sehr schnell in ganz Ostdeutschland aus. In mehr mehr als 700 Städten fanden Streiks und Demonstrationen statt, schätzungsweise eine Million Menschen beteiligen sich daran. Mehr als 250 öffentliche Gebäude wurden besetzt, darunter viele Stasi-Dienststellen und SED-Bezirksleitungen. Mehr als 1000 Betriebe wurden bestreikt, vor allem in den wichtigen Industriezentren im Süden. So fand in Bitterfeld eine zentrale Kundgebung der Arbeiter*innen des Elektrochemischen Kombinats statt, an der sich bis zu 50.000 Menschen beteiligen. Dort wurde per Akklamation ein Kreisstreikkomitee gebildet, welches weitere Aktionen koordinieren und Verbindungen zu umliegenden Orten aufnehmen soll. Auf einer öffentlichen Versammlung des Streikkomitees gegen Mittag wurde ein provisorische Bürgermeister und Landrat bestimmt. Auch in vielen andern Orten wurden spontan Streikkomitees gegründet, teilweise für Stunden das SED-Regime vor Ort entmachtet. Die Arbeiter*innen begannen, die Macht in ihre Hände zu nehmen. Dabei ging es nicht mehr nur um die Normerhöhungen, eine Reihe politischer Forderungen kam auf.
Die Streikleitung aus Bitterfeld schickte der Regierung ein Telegramm mit folgenden Forderungen:
- Rücktritt der Regierung
- Bildung einer provisorischen Regierung aus den fortschrittlichen Werktätigen
- Freie und geheime und direkte Wahlen innerhalb der nächsten vier Monate
- Zulassung sämtlicher großer Parteien
- Sofortige Abschaffung der sogenannten Volksarmee
- Keine Repressalien gegen die Streikenden
- Sofortige Abschaffung der Zonengrenze und Rückzug der Volkspolizei
- Sofortige Normalisierung des Lebensstandards.
Gegen 13 Uhr des 17. Juni wurde vom sowjetischen Stadtkommandanten der Ausnahmezustand für Ostberlin und 167 von 217 ostdeutschen Stadt- und Landkreisen verhängt. Alle Demonstrationen und Versammlungen wurden verboten, in der Zeit von 23 Uhr bis 5 Uhr morgens wurde eine Ausgangssperre verhängt. Schon zuvor ging die SED-Regierung mit Panzer und Soldaten gegen die Demonstrierenden vor, es gab Tote und Verletzte, viele wurden verhaftet. Mehr als 20.000 sowjetische Soldaten und 8000 Polizeikräfte n sollen im Einsatz gewesen sein. Es gab allerdings auch Berichte, dass sich sowjetischen Soldaten weigerten, auf Arbeiter*innen zu schießen, 18 von ihnen sollen wegen Befehlsverweigerung erschossen worden sein.
Die genaue Anzahl der Toten ist bis heute nicht bekannt, Schätzungen gehen von 55 bis 200 Menschen aus. Insgesamt 15.000 Menschen wurden vor Gericht gestellt und verurteilt. Schon am 18. Juni gab Stasichef Erich Mielke den Befehl, sämtliche Streikleitungen ohne vorherige Überprüfung festzunehmen. Trotz des Ausnahmezustandes gingen die Streiks nach dem 17. Juni an vielen Orten weiter, auch in den Werften im Norden. Aus Protest gegen die Verhaftungen legten noch im Juli Arbeiter*innen in Zittau, Jena und im Bunawerk in Schkopau die Arbeit nieder.
Reaktion der SED
Die SED-Führung reagierte mit Zugeständnissen auf den Aufstand. Bedeutende Investitionssummen flossen statt in die Schwerindustrie in den Aufbau der Konsumgüterindustrie, die Leichtindustrie und den Wohnungsbau. Die Löhne wurden angehoben, die Preise in den HO Geschäften um 10 bis 25% gesenkt.
Auf der anderen Seite hatten die Streikenden den Regierenden einen gehörigen Schreck eingejagt. Es folgte eine umfassende Säuberungswelle in der SED und auch im FDGB (Gewerkschaftsbund der DDR). Kritische Mitglieder, darunter ca. 71% der örtlichen SED-Funktionär*innen, wurden gefeuert. Vor allem aber begann der massive Ausbau des Staats und Sicherheitsapparates. Der Volkspolizei wurde um 14.000 neue Stellen aufgestockt, paramilitärische Kampfgruppen – die Betriebskampfgruppen – aufgebaut und in den folgenden Jahren deutlich verstärkt. Diese hatten 1980 eine Stärke von 210.000 Mitgliedern. Eine umfassende Propagandamaschine wurde in Gang gesetzt, die das Bild eines vom Westen gelenkten „faschistischen Putsch“ verbreiteten sollte.
Doch der Aufstand war weder vom Westen gesteuert noch hatte er das Ziel der Einführung des Kapitalismus. Es war eine spontane Massenbewegung, die ausgehend von ökonomischen Forderungen sehr schnell die stalinistische Bürokratie in Frage stellte und klar machte, dass die DDR kein demokratischer Arbeiter*innenstaat und die SED keine sozialistische Arbeiter*innenpartei war. Dabei wurden innerhalb weniger Tage in vielen Betrieben Streikkomitees und Ausschüsse gewählt – die ersten Ansätze der Selbstorganisation von Arbeiterinnen, die wie in Bitterfeld sogar die Kontrolle der Stadtverwaltung übernahmen.
Die Forderungen nach Wiedervereinigung waren verknüpft mit dem Wunsch nach einer Gesellschaft jenseits Stalinismus aber auch Kapitalismus, der nur wenige Jahre zuvor zu Faschismus und Krieg geführt hat. Doch leider gab keine verankerte revolutionäre sozialistische Arbeiter*innenpartei, die so eine Alternative hätte aufzeigen können.
Foto: Bundesarchiv, B 285 Bild-14676 / Unbekannter Fotograf / CC-BY-SA 3.0