In einem Schreiben an die Schulleitungen teilte die Berliner Bildungssenatorin Günther-Wünsch (CDU) mit, dass auch „Symbole, Gesten und Meinungsäußerungen, die die Grenze zur Strafbarkeit noch nicht erreichen“ verboten werden können, zum Beispiel das Tragen des Palästinensertuchs oder Aufkleber und Sticker mit Aufschriften wie „Free Palestine”. Auf einem Schulhof in Berlin-Neukölln war es zuvor zu einem tätlichen Angriff eines Lehrers auf einen Schüler gekommen, weil dieser eine Palästina-Fahne zeigte.
Verbote von Symbolen und Meinungsäußerungen führen zu Spaltung und Spannungen innerhalb der Schüler*innenschaft. Jugendliche arabischer Herkunft werden zu Sündenböcken gemacht und pauschal kriminalisiert. Andere Landesministerien gehen nicht so weit wie Berlin, aber auch in NRW gibt es Vorgaben des Bildungsministeriums. In der E-Mail an die Schulleitungen ist von einer “offenen Gesprächskultur” und “Werten wie Toleranz, Respekt” die Rede, doch anstatt eine umfassende Diskussion über den Krieg im Nahen Osten und dessen Hintergründe vorzuschlagen sollen Lehrer*innen “den Angriff der Hamas auf Israel in den kommenden Tagen in den Schulen (…) thematisieren” – und eben nicht auch die kollektive Bestrafung der Bevölkerung Gazas durch die israelische Armee. Schüler*innen, die gegen diese Darstellung auftreten, wird in dem Schreiben vorab unterstellt, sie wären durch “Desinformation aus den sozialen Medien” beeinflusst.
In einer Kölner Gesamtschule unterstützte die Schulleitung in einer per Lautsprecherdurchsage an alle die Einschränkung des Demonstrationsrechts: “… deshalb werden auch keine Demonstrationen und andere Handlungen erlaubt, die die Hamas und damit auch die Auflösung des Landes Israel unterstützen.” Diese Darstellung entspricht nicht einmal den Tatsachen. Es wurden auch Demonstrationen verboten, die lediglich Solidarität mit den Menschen in Gaza einfordern. Vor den Verwaltungsgerichten wurden allerdings mehrere Verbote aufgehoben.
Die GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) muss diese Maßnahmen seitens der Bildungsministerien kritisieren und sich schützend vor Lehrer*innen und Schüler*innen stellen. Lehrer*innen sollten das Thema Nahost-Krieg thematisieren, wenn die Schüler*innen Bedarf anmelden oder sie es in ihren Lerngruppen für sinnvoll erachten, nicht von oben verordnet. Wenn es zur Diskussion kommt, sollten Lehrer*innen nicht von oben herab die vorgegebene “Linie” verkünden, sondern den Schüler*innen Raum geben und die Diskussion strukturieren. Kritik an der israelischen Besatzungspolitik und den Bombenangriffen auf Gaza darf nicht tabuisiert oder als antisemitisch diffamiert werden. Nur wenn die Schüler*innen die Möglichkeit haben, ihre Meinung zu sagen, kann es einen demokratischen Erkenntnisprozess und wirkliche Diskussion geben. Tatsächliche antisemitische oder rassistische Äußerungen müssen von den Lehrer*innen angesprochen und zurückgewiesen werden.
Wie wäre es, wenn anstatt allgemeiner Parolen die Handelnden präzise benannt werden: Nicht “die Jüd*innen” bombardieren Gaza, sondern die israelische Armee auf Befehl der Regierung, nicht “die Palästinenser*innen” agieren terroristisch, sondern die Organisation Hamas. Die Gleichsetzung von ethnischen Gruppen mit Staaten und Institutionen sollte kritisch hinterfragt werden: die Jüd*innen in Deutschland z.B. stehen nicht stellvertretend für den Staat Israel.
Der Unterricht wäre der richtige Ort, um propagandistische Vereinfachungen, wie sie im medialen und politischen Diskurs dominieren (“Free Palestine = Hamas-Relativierung”), kritisch zu untersuchen.
Es wäre für die Schüler*innen hilfreich, wenn thematisiert würde, dass innerhalb der jeweiligen Gemeinschaften im Nahen Osten sehr kontroverse Debatten stattfinden, dass z.B. jüdische Israelis die Besatzung in Frage stellen und gegen Angriffe auf Gaza eintreten und Palästinenser*innen die Hamas kritisieren und auch zivile Mittel anwenden, um gegen die Besatzung zu protestieren.
Nicht zuletzt sollte angesprochen werden, dass der Antisemitismus nicht vorrangig aus dem Nahen Osten kommt, sondern ein Ergebnis der europäischen, vor allem der deutschen Geschichte ist und dass auch heute antisemitische Einstellungen in Teilen der deutschen Gesellschaft vorhanden sind, bei vielen Leuten aus dem rechtsextremen Spektrum existiert er gleichzeitig mit antimuslimischen und antiarabischen Einstellungen.
Der Umgang der Bildungsministerien mit der Nahost-Debatte an den Schulen wird negative Folgen haben. Die Ausgrenzung und Entrechtung von Kindern und Jugendlichen mit arabischen Wurzeln treibt diese eher in die Hände von reaktionären islamistischen Kräften. Gleichzeitig werden Ressentiments gegen Migrant*innen bei deutschen Schüler*innen gestärkt, legitimiert durch staatliche Politik.
Durch Initiativen von unten, sowohl von Schüler*innen-Vertretungen als auch durch Versammlungen von Lehrer*innen sowie GEW-Betriebsgruppen, Personal- und Lehrer*innenräten kann diese gefährliche Entwicklung öffentlich kritisiert und gebremst werden. Angesichts des repressiven Beamtenrechts brauchen die Lehrer*innen dabei Schutz durch ihre Gewerkschaft GEW.