Am 21. Januar 1924, vor genau 100 Jahren, starb der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt “Lenin”. Die Haltung des bürgerlichen Establishments zu Lenin schwankt zwischen Totschweigen und Verleumden.
Umso wichtiger ist es, darüber aufzuklären, wer Lenin wirklich war, wofür er stand und warum seine Ideen und Konzepte auch für die Gegenwart und Zukunft von Bedeutung sind.
von Marcus Hesse, Aachen
Unter Lenins Führung hat die Arbeiter*innenklasse in Russland 1917 die Macht erobert. Lenins Ziel war jedoch stets die Weltrevolution, als deren Teil die russische Revolution verstanden wurde. Anfang 1924, als Lenin nach schwerer Krankheit starb, umfasste die junge Sowjetunion ein Sechstel der Erde, aber war erst einmal isoliert – denn sozialistische Revolutionen in anderen Ländern (allen voran Deutschland) waren erst einmal gescheitert. Dennoch war es mit der Kommunistischen Internationale gelungen, eine globale revolutionäre Massenorganisation aufzubauen.
Erinnerungskultur
Lenins Ideen sollten im 20. Jahrhundert revolutionäre Arbeiter*innen, aber auch unterdrückte Kolonialvölker inspirieren. Von der neuen sowjetischen Bürokratie, die im Laufe der 1920er an die Macht kam, wurde Lenin zu einer Art Götzen erklärt, dessen konservierten Leichnam Stalin und seine Nachfolger im Mausoleum am Roten Platz ausstellten. Dabei wurden Lenins ursprüngliche Ideen verzerrt und entstellt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR setzen sich endgültig die bürgerlichen, totalitarismustheoretischen Narrative durch: Lenin wurde zunehmend zum “Diktator” erklärt, dessen Wirken und Tun der Herrschaft Stalins und der Bürokratie den Weg bereitet habe und sich qualitativ nicht von diesen unterscheide. In der Ukraine werden heute Lenin-Denkmäler als Relikte der russisch-sowjetischen Herrschaft gestürzt, Putin hat 2022 seinen Krieg damit rechtfertigt, dass die ukrainische Nation eine Schöpfung Lenins sei.
Es ist zu erwarten, dass uns anlässlich des 100. Jahrestag von Lenins Tod in Fernsehdokumentationen, Sachbüchern und Zeitungsartikeln eine Menge an Lügen und Entstellungen über Lenin präsentiert werden.
Der Haupttrend wird wohl Totschweigen sein – denn das Beste für die Herrschenden ist die Auslöschung der Erinnerung an eine echte Systemalternative zum Kapitalismus und eine Person, die wie kaum eine zweite dafür steht.
Rolle der revolutionären Organisation
Zu den vielen Leistungen Lenins gehören seine Ideen und Methoden zum Aufbau einer revolutionären Partei. Er erkannte besonders klar die Notwendigkeit, die revolutionären Zirkel, die es Anfang des 20. Jahrhunderts im zaristischen Russland gab, zu einer gut organisierten, zentralisierten und disziplinierten revolutionären Partei auf der Basis eines marxistischen Programms zusammenzuführen, die in der Lage sein würde, in einer zukünftigen Revolution die Richtung zu bestimmen und die Führung zu stellen. Dabei erwies sich Lenin als sehr streitbar. In seiner Schrift “Was tun?” von 1902 sollte er meisterhaft die Bedeutung und Rolle der revolutionären Partei ausführen. In Russland führte die Trennung der revolutionären Bolschewiki (die Lenin anführte) von den rechteren, auf ein Bündnis mit dem liberalen Bürgertum setzenden Menschewiki dazu, dass die Revolutionär*innen gut vorbereitet und organisiert in die revolutionären Massenbewegungen intervenieren konnten, als diese 1905 und schließlich 1917 losbrachen. (Mehr dazu im Artikel „Die Geburt des Bolschewismus”) Lenins Konzept der revolutionären Partei beinhaltet auch einen weiteren politischen Aspekt: So forderte er in „Was tun?” , dass Revolutionär*innen „Volkstribun für alle Unterdrückten” sein sollen. Kommunist*in (bzw. vor 1918 „Sozialdemokrat*In) sein bedeutete für Lenin Parteinahme für alle in der bürgerlichen Gesellschaft unterdrückten nationalen und religiösen Minderheiten. Bis heute stehen Revolutionär*innen im Sinne Lenins an vorderster Front im Kampf gegen Rassismus und Sexismus, gegen Trans- und Queerfeindlichkeit.
Leider haben viele linke Gruppen Lenins Aussage aus “Was tun?”, dass revolutionäres Bewusstsein nur von außen in die Arbeiter*innenklasse getragen werden könne, vollständig verabsolutiert. Tatsächlich betonte Lenin immer wieder die Flexibilität des Verhältnisses von Partei und Masse: Nicht selten gingen die sich radikalisierenden Massen voran und eilten der Partei voraus. So im Jahre 1917 in Russland, als Lenin eine bedeutende Rolle dabei spielte, seine eigene Partei an den Puls der Bewegung anzupassen und überholte Konzepte über Bord zu werfen. Insgesamt aber sollte die Existenz einer revolutionären Partei dafür sorgen, dass die revolutionäre Massenbewegung der Arbeiter*innen zum Sieg führte. Der Erfolg der Oktoberrevolution von 1917 in Russland stand im Kontrast zur Revolution in Deutschland 1918: Dort fehlte in der revolutionären Bewegung eine revolutionäre Partei. Die KPD sollte sich erst während der Revolution bilden. Die Folge war, dass die sozialdemokratische Partei die revolutionäre Bewegung von innen zerstören konnte. Bis heute ist das Fehlen einer starken revolutionären Partei ein Kernproblem. Revolutionen gibt es immer wieder. Beim Arabischen Frühling 2011 gab es die größten Massenaufstände der Weltgeschichte – aber ohne revolutionäre Organisation waren diese Revolutionen orientierungs- und ziellos.
Imperialismus und Kolonialismus
Lenin verstand stets die Bedeutung der nationalen und kolonialen Frage und stand hier unmissverständlich auf der Seite der Unterdrückten. Die Bolschewiki kämpften im “Völkergefängnis” des Russischen Zarenreiches für nationale Minderheiten, bis hin zum Recht auf staatliche Lostrennung. Auf genau das zielt der Neo-Zarist Putin, wenn er Lenin zum Vater der ukrainischen Lostrennung erklärt. Lenin bekämpfte in der II. Internationale der damals noch dem Anspruch nach marxistischen Sozialdemokratie alle Tendenzen, die ihren Frieden mit der Kolonialpolitik machen wollten und dieser eine “zivilisierende Mission” andichteten. Lenin bekämpfte als konsequenter Internationalist auch Forderungen der damaligen Reformist*innen nach Einwanderungsbeschränkungen.
Die heutigen Debatten zu Migration und gerade auch die “linke” Migrationskritik einer Sahra Wagenknecht hätte Lenin heute mit Kopfschütteln, Wut und vernichtender Kritik beantwortet.
In der nach der Russischen Revolution gegründeten Kommunistischen Internationale kämpfte Lenin für einen konsequenten antikolonialen Kurs. Der afroamerikanische linke Historiker Manning Marable pries Lenin als den Mann, der endgültig den Marxismus bei den um Befreiung kämpfenden Massen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas populär machte. Lenin analysierte den Kapitalismus seiner Zeit als Epoche des Imperialismus als “höchstes Stadium des Kapitalismus”, bei dem das Finanzkapital die dominierende Kraft ist. Die freie Konkurrenz wich dem Monopol.
Der Kampf um die Welt führte zur Blockbildung und würde damit notwendigerweise zum Krieg führen. Diese Prognose sollte sich 1914 bewahrheiten. Lenins Imperialismus-Analyse hat heute im Zeitalter der kapitalistischen Globalisierung, aber auch der neuen imperialistischen Blockbildung (USA/NATO vs. Russland/China) nichts von Ihrer Aktualität verloren.
Kämpfer gegen den Krieg
1914 stürzte die imperialistische Konkurrenz die Welt in einen mörderischen Krieg. Die internationale Sozialdemokratie, aber auch viele Anarchist*innen wie Kropotkin, knickten vor der nationalistischen Stimmung ein und unterstützen “ihre” Herrschenden gegen die anderen. Lenin gehörte – neben Leo Trotzki, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht u.a. – zu der Minderheit, die gegen den sozialpatriotischen Kriegskurs stand. Aus der gegen den chauvinistisch-militaristischen Strom schwimmenden kleinen sozialistischen Anti-Kriegs-Opposition sollten die Kerne der späteren kommunistischen Internationale entstehen. Lenins Anti-Kriegs-Programm hatte jedoch nichts mit Pazifismus zu tun. Er forderte die zum Kriegsdienst gepressten Arbeiter*innen auf, die Gewehre umzudrehen und gegen ihre eigenen Herrschenden zu richten. Der imperialistische Krieg sollte so in einen revolutionären Bürgerkrieg verwandelt werden. Bürgerliche Historiker*innen nutzen diese Losung Lenins gerne, um nachzuweisen, dass Lenin und die Bolschewiki den späteren, verheerenden Russischen Bürgerkrieg mit Millionen von Toten gewollt und provoziert hätten. Doch Lenin und die Bolschewiki meinten nicht den ihnen nach der Oktoberrevolution von der Konterrevolution aufgezwungenen Bürgerkrieg, sondern den bewaffneten Sturz der Kapitalistenklasse, die für ihre Profitinteressen die Arbeiter*innen Europas in das Gemetzel des Ersten Weltkriegs geschickt hatte. Die Oktoberrevolution war nicht zuletzt eine Revolution für die Beendigung des Krieges und für die Verbrüderung von Arbeiter*innen und Soldat*innen aller Nationen. Heute, im Zeitalter zunehmender Militarisierung und Kriege, ist Lenins Konzept eines revolutionären Anti-Kriegs-Kurses von enormer Aktualität.
Arbeiterdemokratie und Diktatur
Lenins Grundsatzwerk “Staat und Revolution” von 1917 wurde im Feuer der Revolution in Russland geschrieben. Darin fasste Lenin brillant die Ideen von Marx und Engels zur Rolle des Staates und die Erfahrungen der Pariser Kommune zusammen. Lenin stellte heraus, dass der bürgerliche Staat nicht in den Dienst der Arbeiter*innenklasse gestellt werden kann – er muss zerschlagen und durch die Organe der proletarischen Demokratie von unten ersetzt werden. So würde der Staat als über den Massen stehende Zwangsmacht allmählich absterben. Die sich bildenden Räte (russisch “Sowjets”) im Zuge der Revolution von 1917 waren die Form der proletarischen Selbstorganisation. Lenin kämpfte dafür, seine eigene Partei der Bolschewiki auf die Übernahme der Macht zu orientieren: “Alle Macht den Räten!” war die Losung, die Lenin seinen Genoss*innen aus der Minderheit heraus einhämmerte.
Schon jahrelang hatte Lenin argumentiert, dass die russischen Revolution unter der Führung des Proletariats stehen müsse. Spätestens seit 1917 war Lenin mit Trotzki darüber einig, dass die Revolution in Russland nur eine sozialistische sein könne. Damit brach Lenin radikal mit den in der Vorkriegssozialdemokratie und der II. Internationale noch gepflegten Konzepten, dass in einem rückständigen Land wie Russland erstmal nur eine bürgerliche Revolution nötig sei und später erst eine davon scharf abgegrenzte sozialistische.
Lenins Konzept einer proletarischen Demokratie (die zugleich eine Diktatur des Proletariats über die Kapitalist*innen sein sollte) strebte die Selbstverwaltung durch die Massen an. „Jeder Koch soll den Staat regieren können” schrieb Lenin. Doch Russland war ein armes und rückständiges Land: 90% der Bevölkerung bestand aus Bäuer*innen, ein Großteil waren Analphabet*innen. Das setze der Umsetzung vieler kühner Visionen enge Grenzen. Vom ersten Tag an war die neue Arbeiterrepublik feindlichen Angriffen ausgesetzt. Die alten Staatsbeamten sabotierten die Sowjetmacht, die bewaffnete Konterrevolution (vom kapitalistischen Ausland unterstützt) rüstete sich. Die bürgerliche Geschichtsschreibung stellt die Oktoberrevolution üblicherweise als „Putsch” einer kleinen Minderheit dar. Tatsächlich aber hatten die Bolschewiki im Herbst 1917 die Mehrheit in den Sowjets der großen Städte inne. Die weitgehend unblutige Machteroberung in der damaligen Hauptstadt Petrograd war nicht die ganze Revolution, die eine gewaltige soziale Umwälzung war, die Massen in Bewegung setzte und nach und nach in ganz Russland stattfand.
Im Januar 1918 jagten die Bolschewiki zusammen mit ihren Verbündeten in dieser Zeit, Linken Sozialrevolutionär*innen und Anarchist*innen, die nach veralteten, vorrevolutionären Wahllisten gebildete Verfassungsgebende Versammlung auseinander, die Russland wieder auf den Weg des bürgerlichen Parlamentarismus bringen wollte. Die Sowjetmacht war eine neue, viel demokratischere Staatsform. Nur eine Minderheit verteidigte da noch den Parlamentarismus. Ein Jahr später in Deutschland sollte die SPD auf die Nationalversammlung und den Parlamentarismus orientieren und damit die Räte entmachten. Anders als in Russland also wurde hier das Parlament zum Zentrum der Gegenrevolution und zum Mittel der Erhaltung des Kapitalismus.
Heute dominiert das bürgerliche Narrativ, dass Lenin und die Bolschewiki von Beginn an eine Ein-Parteien-Diktatur wollten. Doch dem war keinesfalls so. Dass im Laufe des endgültig 1918 ausgebrochenen Bürgerkriegs die Kommunistische Partei (KP) faktisch zur einzigen legalen Partei im Sowjetstaat wurde, lag an der Logik des Bürgerkriegs. Nach und nach sollten andere Parteien – auch “linke” Parteien und Kräfte wie Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Anarchist*innen die KP mit Waffen bekämpfen. 1918 wurde Lenin von einer Linken Sozialrevolutionärin angeschossen und überlebte nur knapp mit einer Kugel im Leib.
Lenin setzte sich meisterhaft und mit großer Lust zur Polemik gegen die Verleumdungen eines Karl Kautsky zur Wehr, der die Bolschewiki als “undemokratisch” attackierte und entlarvte dabei die Heuchelei der bürgerlichen “Demokratien”, die Kautsky vehement verteidigte. Die Sowjetverfassung von 1918 erklärte Russland zur Diktatur der Arbeiter*innen und armen Bäuer*innen über die ehemals herrschenden Kapitalist*innen. In ihr wurden Grundsätze festgelegt, die selbst die demokratischsten bürgerlichen Staaten bis heute nicht gewährleisten, wie gleiche staatsbürgerliche Rechte für Menschen aller Nationalitäten, die im Land leben und arbeiten und keine fremde Arbeitskraft ausbeuten.
Doch der Bürgerkrieg war grausam und brutal und verwüstete das Land. Der brutale Weiße Terror der vom Westen unterstützen antikommunistischen Kräfte, der mit Massakern und sogar mit Massenpogromen gegen Jüd*innen einherging, musste mit Rotem Gegenterror bekämpft werden. Die bürgerliche Verleumdungsmaschinerie liebt es bis heute, Lenin als Tyrannen und Gewaltherrscher darzustellen. Hunger und Zerstörung in Russland waren der Preis des Sieges der Roten Armee über ihre Feinde. Die Sowjetmacht siegte in Russland, doch die erfolgreiche Ausweitung der Revolution auf andere Länder – auf die Lenin und die Bolschewiki setzten – blieb Anfang der 1920er Jahre erst einmal aus.
Der Aufstieg der Bürokratie
Durch den Bürgerkrieg war es zu Konflikten der kommunistischen Partei mit den selbstständigen Bäuer*innen gekommen. Diese hatten 1917 durch die Revolution eigenes Land bekommen und wollten nun als selbstständige Landbesitzer*innen frei darüber verfügen und die Produkte auf dem Markt verkaufen. In den Städten aber hungerten die Arbeiter*innen und die Rote Armee brauchte Verpflegung. Die zum Teil gewaltsame Beschlagnahmung von Getreide führte zu bewaffneten Konflikten zwischen Bäuer*innen und der Sowjetmacht. 1921 setzte Lenin, gegen Widerstände in der eigenen Partei, die Neue Ökonomische Politik (NEP) durch, die einen taktischen Rückzug bedeutete. Privathandel und private Kleinbetriebe wurden legalisiert, Staatsbetriebe sollten teilweise wieder nach Marktgesetzen arbeiten und die Bäuer*innen als Eigentümer*innen über ihre Produkte verfügen. Statt Beschlagnahmungen mussten sie eine progressive Naturalsteuer zahlen. Die NEP führte zur Erholung der Wirtschaft und verbesserte die Versorgungslage. Sie stellte die kleinen und mittleren Bäuer*innen zufrieden, sorgte aber auch für die Wiederkehr sozialer Probleme wie Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit im Arbeiter*innenstaat. Lenin wusste das, sah aber die NEP als leider notwendigen Rückzug. Gleichzeitig arbeitete er mit Hochdruck am Aufbau der Kommunistischen Internationale, die das isolierte Russland entlasten sollte. Denn für Lenin war klar, dass Sozialismus bzw. Kommunismus nur international denkbar ist. Die Idee eines nationalen isolierten Sozialismus nur in Russland war ihm fremd. Erst Stalin sollte 1924 von dieser Möglichkeit – die einen Bruch mit den Grundsätzen des Marxismus war – ausgehen und diese Ideologie zur neuen “marxistisch-leninistischen” Orthodoxie umdeuten.
Lenin war ein sehr flexibler Denker und Praktiker der Revolution. Engagiert brachte er sich in die Debatten und Kontroversen innerhalb der kommunistischen Weltbewegung ein, bekämpfte mal Opportunismus, mal ultralinke Ideen wie den grundsätzlichen Boykott jeder Arbeit in den Parlamenten und reformistischen Gewerkschaften. Sein Buch “Der Linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus” ist bis heute eine maßgebliche Schrift über flexible Stategie und Taktik von Revolutionär*innen. Lenin war streitbar und genoss eine große Autorität, aber er war mitnichten ein “Diktator”. Geduldig diskutierte er, wurde manchmal bei Debatten überstimmt.
Jedoch wurde 1921 – in der Phase der Einführung der NEP und scharfer Fraktionskämpfe in der KP – ein Fraktionsverbot erlassen. Die Einheit und Disziplin der Partei sollte so hergestellt werden. Debatten wurden damit noch nicht verunmöglicht, aber stark eingeschränkt. Das war zweifellos problematisch. Allmählich wurde Lenin immer kränker – die Folgen des Pistolenattentats von 1918 brachen durch. Lenin erlitt einen Schlaganfall, von dem er sich nie mehr ganz erholen konnte. In seinen letzten Lebensjahren war Lenin häufig ans Bett gefesselt, war von vielen Diskussionen abgeschnitten. Allmählich bildete sich ein bürokratischer Apparat heraus, der nach und nach Privilegien für sich beanspruchte und zunehmend selbstherrlich agierte. Stalin, der anfangs eher blasse Generalsekretär der KP ab 1922, wurde der Mentor der neuen Bürokratie. Lenin lieferte sich in seinen letzten Monaten viele Debatten und Auseinandersetzungen mit Stalin und seiner Bürokratie, verteidigte in einem seiner letzten Kämpfe die Forderungen der georgischen Genoss*innen nach mehr Autonomie gegen die Unterordnung unter Moskau, die Lenin als von Stalin geführte “wahrhaft großrussisch-nationalistische Kampagne” bezeichnete. Vor allem forderte Lenin eine Beschränkung der Bürokratie und mehr Demokratie in der Partei. In seinem berühmten “Testament” forderte Lenin schließlich sogar die Absetzung Stalins. Doch die Parteiführung sollte die Veröffentlichung dieses Dokumentes lange unterbinden.
Mumie der Bürokratie oder revolutionäre Inspiration?
Als Lenin am 21. Januar 1924 starb, begannen Stalin und die neue Bürokratie aus Lenin eine übermenschliche Ikone zu machen. Es wurde sukzessive ein ins beinahe Religiöse gehender Kult um den toten Lenin getrieben. Gegen Lenins eigenen Willen und den seiner Witwe Nadeschda Krupskaja wurde seine Leiche mumifiziert und öffentlich ausgestellt. Stalin und seine Nachfolger erfanden nun den “Marxismus-Leninismus” (ML), den sie scharf vom angeblichen konterrevolutionären “Trotzkismus” abgrenzten. Jedoch wurden Lenins Ideen und Grundsätze von seinen Nachfolgern grob entstellt: Aus Lenins konsequentem Internationalismus wurde die unmarxistische Ideologie von der Möglichkeit, eine entwickelte sozialistische Gesellschaft und Wirtschaft in nur einem Land oder einem Block von Nationalstaaten aufzubauen. Aus Lenins Theorie vom Staat, der durch die Revolution allmählich absterben soll und dabei durch die Selbstverwaltung der Arbeiter*innen ersetzt werden soll, wurde die krude These von der Stärkung des Staatsapparates (mit Polizei, Armee und Geheimdienst) auf dem Weg des Aufbaus des Sozialismus. Das hat mit dazu beigetragen, Lenin zu diskreditieren. Zugleich aber blieb Lenin auch in der Sowjetunion und anderen Ländern des Stalinismus ein geschätztes Vorbild. Viele linke Oppositionelle und Arbeiter*innen im Ostblock bezogen sich positiv auf Lenin und forderten ein “Zurück zu Lenin!” und seinen revolutionären Prinzipien.
Zudem inspirierte Lenin radikale revolutionäre Bewegungen der Linken und der Arbeiter*innenklasse in den kapitalistischen Ländern und im großen Maße auch in der (post-)kolonialen Welt des “Globalen Südens”.
Erst in den 1990ern, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks, verlor Lenin an Bedeutung in der Orientierung der politischen Linken, zusammen mit der Vorstellung einer realisierbaren Systemalternative überhaupt.
Doch das Interesse für Lenins Ideen und Konzepte nimmt bei einer Schicht von Aktivist*innen allmählich auch wieder zu.
Als Theoretiker und Praktiker der Revolution und des Sozialismus, als Analytiker und Kritiker des Imperialismus und des bürgerlichen Staates, als Kämpfer gegen Krieg und Militarismus, als Verfechter der politischen Selbstaktivität der Arbeiter*innenklasse und der Notwendigkeit einer revolutionären Organisation als Mittel zum Erfolg einer jeden Revolution hat Lenin uns heute jedenfalls noch sehr viel zu sagen und beizubringen.