Vor 30 Jahren, am 1. Januar 1994, griff die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung im Bundesstaat Chiapas zu den Waffen und rief „¡Ya basta!“ („Genug ist genug!“). Auf diese Weise prangerten Hunderte von Maya-, Tzotzil- und Tzeltal-Indigenen die Armut, den Hunger und das Elend in einem der ärmsten Bundesstaaten des Landes an. Nach dem Fall der Berliner Mauer, dem Scheitern des Stalinismus, der Auflösung des sozialistischen Blocks und dem Rückzug der mittelamerikanischen Guerilla überraschten Tausende bewaffneter Indigener im Südosten Mexikos die Welt und wurden zu einem Bezugspunkt für Millionen von Jugendlichen, Frauen und Arbeiter*innen, die vor dem so genannten „Ende der Geschichte“ nicht kapitulierten und einen radikalen Wandel der Gesellschaft nicht aufgaben.
Wir übersetzen hier den Artikel unserer Schwesterorganisation Alternativa Socialista México ASI (Sozialistische Alternative Mexiko)
Chiapas: 500 Jahre Armut, Elend und Gewalt
„Wir sind das Ergebnis von 500 Jahren Kampf: zuerst gegen die Sklaverei, im Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien, der von den Aufständischen geführt wurde, dann, um nicht vom nordamerikanischen Expansionismus aufgesogen zu werden, dann, um unsere Verfassung zu verkünden und das französische Imperium von unserem Boden zu vertreiben, dann verweigerte uns die porfirische Diktatur die gerechte Anwendung der Reformgesetze und das Volk rebellierte, indem es seine eigenen Führer bildete. Villa und Zapata entstanden, Arme Männer wie wir, denen die elementarste Ausbildung verweigert wurde, damit sie uns als Kanonenfutter benutzen und die Reichtümer unserer Heimat plündern können, ohne sich darum zu kümmern, dass wir an Hunger und heilbaren Krankheiten sterben, ohne sich darum zu kümmern, dass wir nichts haben, absolut nichts, kein anständiges Dach, kein Land, keine Arbeit, keine Gesundheit, keine Nahrung, keine Bildung, kein Recht, unsere Behörden frei und demokratisch zu wählen, keine Unabhängigkeit von Ausländern, keinen Frieden und keine Gerechtigkeit für uns und unsere Kinder.“
– Erklärung des Lakandonischen Dschungels
So beginnt die Erklärung des Lakandonischen Dschungels, mit der die EZLN die Gründe für ihren Aufstand bekannt gab und die Bevölkerung Mexikos aufrief, sich ihr gegen die „Clique von Verrätern, die die konservativsten und landesverräterischen Gruppen vertreten“ anzuschließen. Der Aufruf und die Charakterisierung der Situation im Südosten waren nicht bloß rhetorisch, denn seit der Gründung des unabhängigen Mexikos lebt der Süden des Landes in einer Situation der Rückständigkeit und des sozialen Elends. Allein in den Bundesstaaten Chiapas, Guerrero und Oaxaca litten Ende der 1990er Jahre insgesamt 4 Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung. In diesem Zeitraum lebten in der Region 53,3 Millionen Menschen in Armut und 11,5 Millionen in extremer Armut, so die Daten von CONEVAL. Die Kindersterblichkeitsrate war und ist eine der höchsten des Landes, ebenso wie die Zahl der durch Gewalt und organisierte Kriminalität verursachten Todesfälle. Im Jahr 1993 lebten in Chiapas mehr als 75 % der Bevölkerung in Armut. Am meisten gefährdet waren und sind die indigenen und bäuerlichen Gemeinschaften der Region. Diese Gemeinschaften wurden seit der Zeit der Eroberung und der Unabhängigkeit Mexikos historisch ausgebeutet und unterdrückt.
Der mexikanische Staat hat die indigenen Gemeinschaften nicht nur im Stich gelassen, sondern sie auch aus ethnischen und sprachlichen Gründen diskriminiert. Tsotsil, Chol, Maya und andere Sprachen der Region wurden als Sprachen systematisch an den Rand gedrängt, sowohl durch die Kastellanisierungskampagnen als auch durch die Verwendung des Spanischen als ausschließliche Sprache des öffentlichen Lebens, des Bildungswesens und der Arbeitswelt im Staat. In Chiapas, wo 30 % der Bevölkerung indigen sind und die Mehrheit der Bevölkerung im Hochland und im Dschungel lebt, gibt es die höchste Rate an ethnisch/rassistisch begründeten Hassverbrechen. Seit Jahrhunderten sind die indigenen Gemeinschaften vom städtischen Leben des Bundesstaates abgeschnitten und befinden sich in einer Situation des Elends, da es ihnen an Ressourcen und grundlegenden staatlichen Dienstleistungen wie Gesundheit, Wasser, Bildung, Wohnraum und Nahrung fehlt.
Während sich das Elend verschlimmerte, unterzeichnete die Regierung von Carlos Salinas de Gortari 1992 das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen Mexiko, den Vereinigten Staaten und Kanada. Das Abkommen, das den Handel zwischen diesen Ländern liberalisieren sollte, öffnete die Tür für eine zunehmende Ungleichheit in der Region und begünstigte gleichzeitig den Landraub und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch ausländische Unternehmen. Die Landenteignung in Chiapas nahm in den letzten Jahrzehnten, gegen Ende der 1990er Jahre, mit Unterstützung der mexikanischen Armee und paramilitärischer Gruppen unter der Führung des Militärgouverneurs Absalón Castellanos zu. Dieser Gouverneur stand in einer langen Tradition von PRI-Regierungen und Militärpräsenz in der Region.
Die Ursprünge der EZLN
In diesem Kontext entwickelte sich Ende der 1980er Jahre die EZLN, die seit 1960 über die Nationalen Befreiungskräfte (Fuerzas de Liberación Nacional) in der Region präsent war. Als marxistische Organisation, die sich an der kubanischen Revolution orientierte, organisierte sie eine Guerillabewegung für den Aufbau des Sozialismus in Mexiko. In den 1970er Jahren wurde sie jedoch durch die Repressionen des mexikanischen Staates und seiner Geheimdienste abrupt verfolgt und ihre Struktur vollständig aufgelöst.
Im Jahr 1983 gelang es der FLN, ihre militante Basis in einer bäuerlichen und indigenen Masse zu reorganisieren, die mit ihrer Situation unzufrieden war und sich in den ländlichen Gebieten von Chiapas niederließ, um ihre Aktivitäten fortzusetzen. Die überlebende FLN-Führung beschloss, den Kampf für den Sozialismus neu auszurichten und ihr Programm und ihre Struktur an die neuen Bedingungen anzupassen, die durch die Niederlage des sozialistischen Blocks und den Rückzug der marxistischen Kräfte auf internationaler Ebene entstanden waren. So entwickelte sich die Organisation unter dem Namen Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung. Auch andere Ideen hatten Einfluss auf die Neuausrichtung des Programms der EZLN,darunter die Befreiungstheologie, eine politisch-religiöse Bewegung in Mittelamerika, und die Soziallehre der katholischen Kirche mit dem Bischof von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruíz García.
Im Jahr 1993 wurde das geheime revolutionäre indigene Komitee als Führungsgremium gegründet, das sich aus Mestiz*innen und indigenen Bäuer*innen zusammensetzt. Über Jahrzehnte hinweg rekrutierten sie neue Kämpfer*innen, bildeten Zonen, die von der Führung der Aufständischen verwaltet und versorgt wurden, und organisierten die indigene Bevölkerung politisch unter dem Kommando einer militärischen Struktur.
Der Tag des Aufstandes
Die EZLN wartete auf den Moment des Aufstands und griff am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA), zu den Waffen. Sie forderte die Rückgabe des Eigentums an dem den indigenen Gemeinschaften entzogenen Land, eine bessere Verteilung des Reichtums und die Beteiligung der verschiedenen ethnischen Gruppen an der Organisation des Bundesstaates Chiapas und des übrigen Landes. Orte wie San Cristóbal de las Casas, Altamirano, Las Margaritas und Ocosingo waren das Zentrum des Aufstandes. Das Verdienst der Zapatistas liegt darin, dass sie ein Volksaufstand waren, der eine antikapitalistische Alternative vorschlug – und das zu einer Zeit, als Marxismus und Sozialismus aufgrund der Fehler und Schrecken des Stalinismus ihre Anziehungskraft in der Arbeiter*innenklasse verloren hatten.
Damals wurde die „Erklärung des Lakandonischen Dschungels“ veröffentlicht, ein Programm historischer Forderungen gegen 500 Jahre Elend und Landenteignung, die sich mit der Unterzeichnung von NAFTA verschärft hatten.
„Unser Weg des Feuers wurde angesichts der Unmöglichkeit, friedlich für die grundlegenden Menschenrechte zu kämpfen, eröffnet. […] Unser Kampf besteht darin, uns Gehör zu verschaffen, und die schlechte Regierung bläst Arroganz und hält sich die Ohren mit Kanonen zu. […] Wohnung, Land, Arbeit, Brot, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden. Das waren unsere Fahnen in den frühen Morgenstunden des Jahres 1994. Das waren unsere Forderungen in der langen Nacht von 500 Jahren. Dies sind auch heute unsere Forderungen.“
– Zweite Erklärung des Lakandonischen Dschungels –
In den Tagen nach dem Aufstand begann die mexikanische Regierung einen kurzen Bürgerkrieg in Chiapas. Sie genehmigte die Entsendung von 70.000 Soldat*innen in die aufständischen Gebiete, um den Aufstand niederzuschlagen. Eine Woche lang ermordete die Armee brutal Zivilist*innen und Aufständische. Die Rebellion schien bei diesem Versuch zu sterben. Doch 12 Tage nach Beginn des Krieges mobilisierten Gewerkschaften, linke Parteien, Jugendliche und Studierende in Mexiko-Stadt, um gegen die Belagerung der Zapatistas zu protestieren. Die Proteste von Millionen von Jugendlichen und Arbeiter*innen zwangen die Regierung Salinas de Gortari, den Krieg zu beenden und mit den Aufständischen über einen Frieden zu verhandeln. Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichnete die mexikanische Regierung am 16. Februar 1996 den Frieden mit der EZLN im Rahmen des Abkommens von San Andres, das die Existenz autonomer, von den Zapatistas verwalteter Zonen, die Rückgabe von Land und Gesetzesreformen zugunsten der indigenen Völker vorsieht. Die Abkommen von San Andrés wurden jedoch nicht vollständig umgesetzt und sind somit zu einem weiteren Affront gegen die indigenen Zapatistas geworden.
Die Jahre des Widerstands
Jahre nach dem Aufstand und mit der Unterzeichnung des Abkommens von San Andrés förderte die EZLN die Bildung autonomer zapatistischer Gemeinden unter dem Namen „Caracoles“ (2003) und schuf neue Verwaltungsstrukturen unter dem Namen „Juntas de Buen Gobierno“ (Räte der Guten Regierung). Diese Gemeinden übernahmen die Aufgaben, die der mexikanische Staat den Gemeinden nicht zugestanden hatte, wie z. B. Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnraum, Arbeit und Ernährung für die lokale Bevölkerung. Sie wurden zum Zentrum des politischen Einflusses des Zapatismus auf internationaler Ebene und erhielten Besuche von linken Intellektuellen und Politiker*innen, die von den organisatorischen Erfahrungen der EZLN beeindruckt waren.
Der Mangel an materiellen Elementen und die Isolation des Kampfes machten die EZLN und die Caracoles schließlich zu leichten Opfern der Repression des mexikanischen Staates. Die Armee startete einen Vernichtungsfeldzug und zwang die Aufständischen, zu ungleichen Bedingungen zu verhandeln. Kurz nach ihrer Unterzeichnung wurden die Vereinbarungen von San Andrés von Präsident Ernesto Zedillo ignoriert. Die Einkreisungs- und Belagerungspolitik, die von der föderalen und lokalen Regierung mit Unterstützung von Landbesitzern und Viehzüchtern organisiert wurde, wurde intensiviert, indem paramilitärische Kräfte, die bereits existierenden Weißen Garden, die von der Armee selbst ausgebildet wurden, reorganisiert wurden, um die Gemeinden zu schikanieren. Im Dezember 1997 provozierten diese Kräfte ein Massaker in der Gemeinde Acteal, bei dem mehr als 45 indigene Menschen, darunter Männer, Frauen und Kinder, getötet wurden.
Die zapatistischen Gemeinden, die 2003 als Zonen der Selbstverwaltung gegründet wurden, waren und sind immer noch Opfer des Drucks von außen durch paramilitärische Gruppen, Drogenhändler*innen und die mexikanische Armee. Unglückliche Ereignisse, wie die während des von der Regierung Felipe Calderon geförderten „Kriegs gegen die Drogen“, verstärkten die Militärpräsenz in Chiapas. Während der sechsjährigen Amtszeit Calderons gab es Berichte über Land- und Wasserraub, das Verschwinden von Personen und außergerichtliche Hinrichtungen sowie eine offen antizapatistische Kampagne der örtlichen Bürgermeister*innen. Im Mai desselben Jahres prangerten die Zapatistas militärische Übergriffe in mindestens drei Regionen von Chiapas an. Die Angriffe reichten vom Niederbrennen von Ernten bis zu Hausdurchsuchungen. Die Generalstaatsanwaltschaft für Umweltschutz, unterstützt von der Bundespolizei, vertrieb beispielsweise die Bauern in Montes Azules mit enormer Brutalität. Seit dem Amtsantritt von Calderón als Präsident der Republik wurden in Chiapas 79 Militärlager eingerichtet, 56 davon auf indigenem Gebiet, 90 % davon mit Spezialtruppen, die von Paramilitärs unterstützt werden. Die Regierung von Andrés Manuel Lopez Obrador hält an diesen Stützpunkte in der Region immer noch fest.
Im Jahr 2013, unter der Regierung von Enrique Peña Nieto, setzten sich die Aggressionen fort, als die Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos (Unabhängiges Zentrum der Landarbeiter*innen und Bäuer*innen), mit 300 bewaffneten Streikbrechern, das Land des Ejidos „10 de abril“ stahl und hundert Familien vertrieb. Seitdem ist die Zwangsvertreibung in Chiapas zu einer immer häufigeren Form der Aggression geworden. Ganze Familien und zapatistische Stützpunkte leben immer noch in verzweifelten Situationen. Diese Fälle sind nur einige von Tausenden, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten ereignet haben. Jahr für Jahr haben die Aggressionen zugenommen und sich normalisiert, die meisten gerichtlichen Untersuchungen bleiben ungelöst und der Aufstand, der 1994 begann, ist heute nur noch ein Schatten seines früheren Selbst.
Die Situation hat sich jedoch verschärft. Seit Mai dieses Jahres (2023) waren die autonomen zapatistischen Gemeinden in Chiapas das Ziel von mindestens zehn paramilitärischen Übergriffen der Regionalen Organisation der Kaffeebauern von Ocosingo (ORCAO), einem kapitalistischen Unternehmen, das in der Region Kaffee produziert und die Farmen der Großgrundbesitzer*innen mit Söldner*innen schützt. Entführungen, Ermordungen, Schießereien, Brandschatzungen von Lagerhäusern und Schulen sind die Verbrechen dieser Organisation. Aufgrund der Aggressionen und Provokationen verkündete die EZLN-Führung im Juni, Chiapas stehe „am Rande eines Bürgerkriegs“.
Am 2. Juni 2023 drangen bewaffnete Paramilitärs in ein Gemeinschaftshaus in der zapatistischen Gemeinde Polhó ein, in dem etwa 150 Vertriebene aus Santa Martha Zuflucht gesucht hatten, die völlig unbewaffnet waren. Die Paramilitärs begannen auf sie zu schießen, töteten sieben Menschen und verletzten drei weitere.
Die Geflüchteten, von denen die meisten aus Tsotsil stammen, waren im September 2022 gewaltsam vertrieben worden, nachdem ihnen von Landbesitzer*innen in Zusammenarbeit mit der lokalen und staatlichen Regierung unter der Leitung von Rutilio Escandon ihr Land, ihr Besitz und ihre kommunalen Rechte entrissen worden waren. Ihre Häuser wurden von den Paramilitärs geplündert und in Brand gesteckt, um sicherzustellen, dass die Dorfbewohner*innen nicht zurückkehren können, was Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie ethnische Säuberung, Zwangsvertreibung und Völkermord darstellt. Mehrere Mitglieder der EZLN-Unterstützungsbasen (BAEZLN) wurden von der ORCAO angegriffen, oft mit tödlichem Ausgang, deren Vorgehen gegen die EZLN im Namen der Profite der Kaffeegrundbesitzer*innen Dutzende von Toten und noch mehr Verletzte gefordert hat. Der jüngste Angriff war die versuchte Ermordung des BAEZLN-Mitglieds Jorge Lopez Santiz am 22. Mai 2023 durch Paramilitärs, wobei sich das Opfer noch immer in einem kritischen Zustand befindet.
Die Bundesregierung ihrerseits ignoriert die kritische Situation der indigenen Bevölkerung in Chiapas, und der Präsident Andres Manuel hat öffentlich erklärt, er glaube nicht, dass es sich um eine „weit verbreitete oder ernste Angelegenheit“ handele. Auf einer Pressekonferenz in Chiapas Ende Juni sagte er: „Nein, nein, nein, im Allgemeinen hat es keine Aggressionen gegeben. Es gibt einige Fälle, aber es handelt sich nicht um eine absichtliche Aktion, um einen Angriff“.
Chiapas ist kein Einzelfall, denn im ganzen Land werden indigene Gemeinschaften und Umweltaktivist*innen gefoltert, ermordet, verschleppt oder verfolgt. In diesem Jahr wurden bisher mehr als 24 Umweltschützer*innen ermordet, 582 Angriffe verübt und ein Dutzend Gerichtsverfahren gegen diese Gemeinschaften eingeleitet, die sich gegen die Plünderung des Wassers und ihres Territoriums für die Profite der kapitalistischen Industrie wehren.
Am 8. Juni organisierten die indigene Gemeinschaft der Otomí, das antikapitalistische Universitätsnetzwerk, die mexikanische Elektriker*innengewerkschaft (SME), die zapatistische Revolutionäre Volksunion und die Anhänger des Sechsten Lakandonischen Dschungels EZLN neben anderen Gruppen mehrere Demonstrationen gegen die ungesühnten Angriffe. Die Solidarität äußerte sich in Form von Märschen und Demonstrationen in Xalapa, Veracruz; Cuernavaca, Morelos; San Cristóbal de las Casas, Chiapas. Auch in Deutschland, den Vereinigten Staaten, Spanien, Frankreich und Griechenland beteiligten sich insgesamt mehr als 800 mexikanische und internationale Organisationen.
Im November gab die EZLN-Führung ein letztes Kommuniqué heraus, in dem sie zur internationalen Solidarität gegen die Angriffe aufrief. Außerdem kündigte sie die Auflösung der 43 Räte der Guten Regierung, die unbefristete Schließung der 16 Caracoles für externe Besucher*innen und die Reaktivierung ihres Militärkommandos an. Es scheint, dass die EZLN angesichts dieser Ereignisse einen Reformierungsprozess durchlaufen wird, der in den kommenden Jahren zu einer Neuausrichtung ihrer Aktivitäten und ihres Programms führen wird.
Die Ereignisse stellen eine ernste Gefahr für die Autonomie und Selbstbestimmung der indigenen Völker dar und bedeuten einen schweren Rückschlag für die Fortschritte, die der Zapatismus bei der Eroberung des Rechts auf Sicherheit, Leben und persönliche Integrität der zapatistischen Familien erzielt hat. Aus diesem Grund verurteilen wir von der Sozialistischen Alternative die Aggressionen und senden eine Botschaft der Solidarität mit den indigenen Gemeinden in Mexiko. Aus diesem Grund müssen wir über die politische Situation in Mexiko diskutieren, um eine breite Basis mit Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Indigenen, Jugendlichen, der LGBTQ+-Gemeinschaft und generell allen Unterdrückten aufzubauen.
Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen? Eine solidarische marxistische Kritik
Als Sozialist*innen verurteilen wir die Angriffe auf die zapatistischen indigenen Gemeinschaften und sind mit ihnen solidarisch. Es ist jedoch auch wahr, dass diese Aggressionen und Vernichtungskampagnen die Fähigkeit des Kapitalismus zeigen, diese revolutionären Erfahrungen zu verwässern. Die eigene Politik der EZLN hatte zur Folge, dass ihre organisatorische Stärke im Kampf gegen die Aggressionen geschwächt wurde. Ihre Politik lässt sich in dem Satz „die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ zusammenfassen, was bedeutet, eine neue Welt aufzubauen, ohne um die politische Macht zu kämpfen, so dass sie den Arbeiter*innen und Bäuer*innen zufällt. Das heißt, dass der Kapitalismus seine wichtigste Bastion behält: den Staat.
Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung hat bewusst darauf verzichtet, die Führung einer antikapitalistischen und Volksbewegung auf nationaler Ebene zu übernehmen. Indem sie sich auf „Beratung“ beschränkte, wurde ihre enorme politische Autorität ausgehöhlt, und dies war die Grundlage für die jüngsten Aggressionen gegen die zapatistischen Gemeinden. Ihre Siege beschränken sich auf kleine geografische Räume und lokale Unterstützungsnetzwerke, die sich der Logik des Kapitalismus nicht für immer entziehen können.
Als Sozialist*innen müssen wir Situationen wie diese analysieren und geduldig erklären, dass diese Formeln diese Art von Ergebnissen hervorbringen. Die historische Erfahrung hat dies bestätigt. Wunderschöne revolutionäre Ereignisse wie die Pariser Kommune sind an ihrer Unfähigkeit gescheitert, die Macht auf einer neuen Grundlage, nämlich der Organisation der Unterdrückten, zu übernehmen. Genauso wie damals hat sich der Kapitalismus als eine Kraft erwiesen, die nicht nur in Chiapas, Mexiko oder Lateinamerika besiegt werden kann, sondern auf internationaler Ebene besiegt werden muss. Das ist es, was wir von der Internationalen Sozialistischen Alternative in Mexiko und auf der ganzen Welt aufbauen.
Artikel auf Englisch: https://internationalsocialist.net/en/2024/01/mexico
Auf Spanisch: https://alternativasocialista.org/ya-basta-a-treinta-anos-del-levantamiento-zapatista/
Foto: tj scenes / cesar bojorquez (flickr), CC BY 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by/2.0, via Wikimedia Commons