Seit Wochen gehen zehntausende überwiegend junger Menschen in der georgischen Hauptstadt Tbilisi auf die Straße, um gegen das “russische Gesetz” der Regierung von Ministerpräsident Irakli Kobachidze von der Partei “Georgischer Traum” zu protestieren. Das Gesetz verpflichtet georgische Organisationen, die zu mehr als 20% aus dem Ausland finanziert werden, ihre Geldquellen offenzulegen und sich als ausländische Interessenvertreter*innen registrieren zu lassen. Viele fühlen sich an ein ähnliches Gesetz in Russland erinnert, das dort 2012 eingeführt wurde und dazu diente, regimekritische Organisationen einzuschüchtern und ihre Arbeit unmöglich zu machen.
Von Claus Ludwig, z.Zt. Tbilisi, Georgien
Die jungen Demonstrierenden fürchten vor allem, dass dieses Gesetz und die von ihnen vermutete Annäherung an Russland ein Hindernis für den erhofften Beitritt zur EU darstellen. Georgien ist seit Dezember 2023 EU-Beitrittskandidat. Viele sehen in der EU Chancen für Investitionen in Georgien oder hoffen auf die Möglichkeit zur Auswanderung.
Die Erzählung der Medien hierzulande ist simpel: Auf der einen Seite eine Regierung, die sich mehr Richtung Russland und repressiver Gesetzgebung orientiert, auf der anderen Seite die Opposition und große Teile der Jugend, die sich für eine stärkere Westbindung und demokratische Rechte einsetzen.
Auf EU-Kurs
Doch so einfach ist es nicht. Auch die derzeitige Regierung der Partei “Georgischer Traum” strebt weiterhin die EU-Mitgliedschaft an. Ihr Gesetz ist repressiv und kann gegen jede gesellschaftliche Opposition eingesetzt werden. Aktuell zielt es jedoch vor allem auf die Oppositionsparteien, die massiv durch westliche Investitionen finanziert werden.
Der Plan mag von Putins Vorgehen 2012 inspiriert sein, aber das Gesetz hat im kleinen Georgien (3,7 Mio. Einwohner*innen) ein anderes Gewicht als damals in Russland. In dem Kaukasus-Staat ist die Finanzierung von Parteien und NGO durch westliche Geldgeber ein reales Problem, weil diese dadurch ihren Einfluss über ihre eigene Kraft hinaus ausbauen können, anders als in Russland, wo das Argument der ausländischen Finanzierung nur vorgeschoben war. Auch wenn sich das Gesetz in der jetzigen Form gegen die eher rechten Oppositionsparteien richtet, kann es auch gegen Gewerkschaften und Linke verwendet werden, die international organisiert sind. Das Gesetz ist abzulehnen, allerdings nutzen die Oppositionsparteien die Proteste für ihre eigenen Zwecke.
Mehrere Parteien der georgischen Opposition stehen in der politischen Tradition des Ex-Präsidenten Mikhail Saakashwili, der mittlerweile inhaftiert ist, weil er einen politischen Konkurrenten zusammenschlagen ließ. Seine pro-westliche, ultraliberale Politik hatte zu umfassender Privatisierung und weiterer Verarmung geführt. 2008 verschätzte Saakaschwili sich und versuchte, die abtrünnige Region Süd-Ossetien militärisch zu unterwerfen. Das führte zu einem Einmarsch russischer Truppen und zur Niederlage der georgischen Armee. Noch heute stehen russische Truppen dort, ebenso wie in der Region Abchasien am Schwarzen Meer.
Geschäfte mit allen Seiten
Aktuell liegt es nicht im Interesse des russischen Regimes, Georgien zu destabilisieren oder gar zu erobern. Auch will die dortige Regierung sich nicht einseitig Putin unterwerfen. Georgien ist ein touristisches Ziel für viele Menschen aus Russland, dem Iran und der Türkei und ein Umschlagplatz für Waren, z.B. ins durch die Türkei und Aserbaidschan isolierte Armenien. Viele junge Russ*innen, die sich dem Militärdienst entzogen haben, leben dort – und arbeiten teilweise weiterhin für russische Firmen, so dass das Putin-Regime darauf hoffen kann, diese wieder zurückzugewinnen.
Die “Georgischer Traum”-Regierung versucht, gleichzeitig mit der EU, Russland, dem Iran und der Türkei Geschäfte zu machen – vielleicht der Traum von einer kaukasischen Schweiz?
USA: Drohungen und Versprechen
Doch die zunehmende Polarisierung der Block-Konfrontation zwischen den imperialistischen Großmächten schleicht sich in jedes kleine Land hinein. Die Oppositionsparteien fungieren als Transmissionsriemen dieser Konfrontation. Sie betreiben eine aggressiv antirussische Kampagne, und laden die erwünschte Westbindung nationalistisch oder gar rassisistisch auf – weil Georgien kulturell zu Europa gehöre und nicht zum negativ konnotierten Asien. USA und EU treiben die Eskalation von außen voran. Die US-Regierung droht laut dem Online-Portal Politico mit Sanktionen gegen Verantwortliche für das polizeiliche Vorgehen und bot gleichzeitig ein umfassendes Militärpaket an, würden die Maßnahmen zurückgenommen. Das könnte bei der ultranationalistischen Opposition die irrsinnige Illusion anregen, eines Tages doch noch Abchasien und Süd-Ossetien zurückzuerobern.
Angesichts einer langen Geschichte der russischen Unterdrückung Georgiens im Zarenreich und unter der bürokratischen Diktatur Stalins sowie der imperialistischen Regionalpolitik Putins fallen die Warnungen vor Russlands Einfluss auf fruchtbaren Boden. Überall in Tbilisi sieht man antirussische Parolen. Man kann von einer Kampagne sprechen, die davon ablenkt, dass die Opposition außer Nationalismus nichts zu bieten hat.
Gewalt gegen Demonstrierende
In den westlichen Medien wurde die Polizeigewalt gegen die Demonstrierenden betont und als Beispiel für die autoritären Tendenzen der Regierung dargestellt. Tatsächlich griff die Polizei die Demonstration am Tag der Abstimmung im Parlament mit Schlagstöcken und Pfefferspray an und verletzte mehrere Menschen. Danach zog sie sich zurück und ließ zu, dass die Demonstrierenden das Parlament bis in die Nacht belagerten und die Fassade mit Parolen bemalten. Was würde passieren, wenn Demonstrant*innen das am Bundestag machten? Natürlich ist die Polizeigewalt abzulehnen. Doch hier wird mit zweierlei Maß gemessen, denn sie hat keineswegs das Ausmaß der Prügelexzesse der französischen Polizei erreicht und auch Antifaschist*innen, Klimaaktivist*innen und Palästina-Demos in Deutschland haben solche Übergriffe erlebt, ohne dass die Medien die deutsche Regierung als autoritäres Regime bezeichnet hätten.
Schöne Fassade
Der Mehrheit der demonstrierenden Jugendlichen geht es wahrscheinlich nicht um biligen Nationalismus, sondern um eine soziale Perspektive, die sie mit der EU verbinden, sowie um den Erhalt demokratischer Rechte.
Doch dies haben weder Regierung noch Opposition anzubieten. Beide vertreten eine neoliberale Politik und sind korrupt. Die Regierungspartei wird in stärkerem Maß von inländische Oligarchen finanziert, v.a. von ihrem Gründer, dem Milliardär Bidsina Iwanischwili. Dieser war zunächst Geldgeber von Saakaschwili, wandte sich ab, nachdem er die Polizei gegen Proteste einsetzte und den Krieg von 2008 begann. Er gründete die Partei “Georgischer Traum” und wurde 2012 zunächst Premierminister. Seine Partei gewann auch die Wahlen 2020. Noch immer zieht Iwanischwili die Strippen und finanziert die Regierungspartei. Die Opposition und die mit ihr verbundenen NGOs werden massiv von westlichen Geldgebern unterstützt. Beide Lager vertreten die Interessen der Reichen.
Vor den schönen Fassaden der touristischen Städte wie Tbilisi und Batumi flanieren gut gekleidete Menschen. Doch das ist wortwörtlich nur die Oberfläche Der Abstieg in die Metro der Hauptstadt, welche die Arbeiter*innen in die Vorstädte bringt, zeigt ein anderes Georgien. Die Menschen dort sind schlechter gekleidet, wirken grau und müde. 30 Jahre nach der Unabhängigkeit ist der Lebensstandard vieler Arbeiter*innen sehr niedrig.
Die Opposition lenkt die Unzufriedenheit in Richtung Nationalismus und Hass auf Russland. Das ist ein gefährliches Spiel. Wenn Georgien zu einem – politischen oder gar militärischen – Stützpunkt für die USA und EU würde, wüchse auch das Interesse des russischen Imperialismus an der Destabilisierung des Landes. Mit den Regionen Abchasien und Süd-Ossetien verfügt das Regime Putin über geeignete Hebel dafür.
Die Arbeiter*innenklasse und die Jugend haben in diesem künstlich eskalierten Machtkampf zwischen den Fraktionen der Eliten nichts zu gewinnen. Natürlich sollten Gewerkschaften und linke Organisationen das Gesetz ablehnen, auch, weil es sie selbst betreffen könnte. Sie sollten sich jedoch von Opposition und Regierung fernhalten, sich nicht der nationalistischen und militaristischen Welle unterordnen und stattdessen eigene soziale Forderungen entwickeln sowie kämpferische Gewerkschaften und eine revolutionäre Partei der Arbeiter*innen aufbauen, unabhängig von georgischen, russischen oder westlichen Kapitalisten.