Nach den Morden an Hamas- und Hisbollah-Führern durch die israelische Armee ist der Nahe Osten so nah an einem großen Krieg wie nie seit dem 7. Oktober letzten Jahres. Dem genozidalen Krieg gegen die Bevölkerung in Gaza, der über 40.000 Menschenleben gekostet hat, könnte die Ausweitung des Krieges auf den Libanon und Iran folgen.
Von Sebastian Rave, Bremen
Hektische Diplomatie und gleichzeitige Kriegsvorbereitungen auf beiden Seiten bestimmen die Schlagzeilen. US-Außenminister Blinken reiste von seiner Nahost-”Vermittlungsmission” ohne Ergebnisse zurück nach Washington. Ein weiterer Flugzeugträger der US-Marine, begleitet von einem dutzend Kriegsschiffen, wurde in die Region entsandt, um den Iran vor einer befürchteten Vergeltung abzuschrecken.
Die israelische Armee setzt ihre barbarischen Angriffe auf die Menschen in Gaza fort. Im August wurden mehrere Schulen angegriffen, in denen Zivilist*innen Schutz gesucht hatten. Mittlerweile sind fast alle Schulgebäude in Gaza zerstört. Menschen, die nach Nord-Gaza zurückkehren, berichten von vollständiger Zerstörung. Seuchen wie Polio breiten sich aus. Es gibt nicht einmal eine Feuerpause, um die notwendigen Impfungen durchzuführen.
Imperialistische Blöcke
Die Netanjahu-Regierung begründet das anhaltende Massaker mit „Sicherheit“ nach dem Angriff auf jüdisch-israelische Zivilist*innen am 7. Oktober. Doch vor allem Israels Krieg gefährdet das Leben der Hamas-Geiseln – viele von ihnen wurden durch die Militärangriffe getötet. Der Krieg bringt niemandem Sicherheit. Selbst wenn die Netanjahu-Regierung sich auf einen Waffenstillstand einlassen sollte, wird die Besatzung und militärische Unterdrückung, und damit das Leiden der Massen weitergehen.
Die Hamas ist durch den Krieg und die Ermordung einiger ihrer Köpfe nicht geschwächt. Ihre Machtbasis erhält sie durch das Image als Widerstandskraft gegen die israelische Besatzung. Politisch ist sie sogar gestärkt angesichts der Tatsache, dass die stärkste Militärmacht der Region nach fast einem Jahr zerstörerischer Kriegsführung immer noch intensiven Guerilla-Angriffen in Gaza ausgesetzt ist, und noch weit entfernt vom offiziellen Kriegsziel der „Zerstörung der Hamas“ ist.
Die Ursache des Krieges ist ohnehin nicht der 7. Oktober, sondern die nationale Unterdrückung mit diktatorischer Besatzung und Siedlerkolonialismus, gedeckt vom westlichen Imperialismus, der seine Machtinteressen in der Region über seinen strategischen Verbündeten Israel durchsetzt. Die globale imperialistische Polarisierung zwischen den Blöcken um die USA und China gibt dem nationalen Konflikt das Potenzial, die ganze Region mit in den Strudel zu reißen. Dem anti-iranischen Lager um die US-Verbündeten steht die von Russland und China geförderte „Achse des Widerstands“ gegenüber: Iran, Hamas, Hisbollah, die Huthi im Jemen, und weitere Milizen in Syrien, Irak und Bahrain.
Dass alle „roten Linien“ Bidens doch erstaunlich elastisch waren und weiterhin Waffen geliefert werden, ist in den geostrategischen Interessen in einem regionalen und globalen Machtkampf begründet. Diese zwingen den US-Imperialismus geradezu, den israelischen Kapitalismus als ihren Anker in der Region weiterhin militärisch, ökonomisch und politisch zu unterstützen. Auf der anderen Seite nehmen Zusammenarbeit und Waffenlieferungen zwischen dem Iran und Russland zu. Xi Jinpings Einladung von Fatah- und Hamas-Repräsentant*innen und die moderierte „Versöhnung“ ist der Versuch Chinas, ebenfalls Einfluss in der Region zu gewinnen.
Pyromanische herrschende Klasse
Der israelische Kapitalismus steckt in einer multiplen Krise und versucht, diese durch mehr Feuerkraft und Gewalt zu bekämpfen. In diesem Kontext ist die Provokation zu sehen, mit der der rechtsextreme Sicherheitsminister Ben-Gvir auf dem Tempelberg, ein muslimisches Heiligtum, betete und die israelische Flagge hisste. Ben-Gvir fordert zudem eine Ausweitung des Krieges gegen den Libanon. Teile der israelischen herrschenden Klasse streben eine gewaltsame Lösung der seit Jahren angespannten Situation mit dem Libanon an. Vor dem Hintergrund der Bindung militärischer Kräfte beim Massaker in Gaza, aber auch wegen des Drucks aus Washington zögert Israel noch. Doch der Durst nach einer Machtdemonstration steigt. Ein Krieg zwischen Hisbollah und der israelischen Armee wäre eine Katastrophe für die Menschen im Libanon, aber auch Vergeltungsschläge mit den Raketen der Hisbollah auf israelisches Gebiet haben großes Zerstörungspotenzial.
Die Rechtsextremen in Israel wollen die palästinensische Bevölkerung aus dem Gaza-Streifen vernichten und vertreiben. Die herrschende Klasse in Israel ist aber auf ihre westlichen Verbündeten angewiesen und muss zudem ihr Vorgehen gegenüber den Massen in Israel rechtfertigen. Auch in der israelischen Gesellschaft mehren sich die Stimmen gegen das brutale militärische Vorgehen. Zwischen Verteidigungsminister Gallant und Netanjahu ist ein öffentlicher Streit über die Kriegsziele entbrannt. Netanjahu fordert den „totalen Sieg“ über die Hamas, Gallant bezeichnete das als „Unsinn“.
Damit kommt der politische Konflikt zurück, der vor dem Hamas-Angriff am 7. Oktober die israelische Politik dominierte. Dabei ging es um die Entmachtung des Obersten Gerichts, gegen die eine klassenübergreifende Massenbewegung demonstrierte und die sogar zu einem Generalstreik führte. Die Netanjahu-Regierung ist unbeliebt, bleibt aber stabil – auch angesichts der Schwäche der Opposition.
Israels Guantanamo
Über den Umgang mit öffentlich gewordenen barbarischen Misshandlungen von palästinensischen Gefangenen im Haftlager Sde Teiman in der Negev-Wüste sind Konflikte innerhalb der Regierung ausgebrochen. In „Guantanamo Israels“ soll es zu Folter, Amputationen, Knochenbrüchen und 35 Todesfällen in der Gefangenschaft gekommen sein. Nachdem ein Gefangener schwer sexuell Misshandelt wurde, wurde ein Soldat von der Militärpolizei verhaftet. Likud-Minister und die extreme Rechte griffen daraufhin die Militärspitze an. Rechtsextreme Demonstrant*innen, unter ihnen Regierungsminister, drangen in einen Stützpunkt der Militärpolizei ein. Verteidigungsminister Gallant warf Sicherheitsminister Ben Gvir vor, den Polizeieinsatz dagegen verzögert zu haben. Tatsächlich wurde der Mob mit Samthandschuhen behandelt – im Kontrast zu den Familien der Geiseln, die für einen Gefangenendeal protestieren und immer wieder mit Polizeigewalt konfrontiert wurden.
Die Hoffnung vieler liegt auf diplomatischen Bemühungen von ausländischen Mächten, sei es die Anerkennung Palästinas oder durch internationale Gerichtsverfahren. Zum Teil mögen diese das Vorgehen Israels verlangsamen und den Protesten Motivation geben. Sie werden aber das Blutbad in Gaza nicht aufhalten. Der Internationale Strafgerichtshof hatte gefordert, dass Rafah nicht angegriffen wird, und Israel griff Rafah trotzdem an. Der Internationalen Strafgerichtshofs hat zudem festgestellt, dass die Besatzung von Gaza und Westjordanland nicht „legal“ sind, und Israels Besatzung geht trotzdem weiter. Der Schein der „regelbasierten Ordnung“ hat weder Israel noch andere imperialistische Angriffe oder unterdrückerische Regimes je aufgehalten.
Es gibt allerdings einen weiteren Faktor, der die Ereignisse bestimmen kann: Die internationale Protestbewegung gegen den Krieg. Auch wenn diese bisher nicht mächtig genug war, um den Krieg zu stoppen, hat sie in vielen westlichen Ländern den Druck auf die Politik erhöht, Israel zumindest zu Zurückhaltung aufzurufen. In Israel selbst gibt es Massendemonstrationen gegen Netanjahu, für Neuwahlen, und für einen Geisel-Deal, wenn auch nicht gegen den Krieg direkt. Und im besetzten Westjordanland gibt es anhaltende Proteste und Streiks gegen die Ausweitung von israelischen Siedlungen im Schatten des Krieges.
Sieben US-amerikanische Gewerkschaften fordern von der Biden-Regierung, die Militärhilfen an Israel einzustellen. Auch in Frankreich und Britannien werden Demonstrant*innen nicht müde, auf die Rolle ihrer Länder bei der Bewaffnung Israels hinzuweisen. Die Uni-Besetzungen in den USA und anderen Ländern haben auch Studierende in Israel-Palästina inspiriert. An mehreren Unis gab es gemeinsame Aktionen von Palästinenser*innen und jüdischen Israelis gegen den Krieg. Doch die Schwäche der Linken in der Region, insbesondere in Israel, wiegt schwer. Zwar misstrauen 80% der Israelis der Knesset, aber ebenso viele vertrauen der israelischen Armee. Auch einige Angehörige der Geiseln haben der israelischen Armee in einem Statement für den „militärischen Druck“ gedankt. Andere aber, wie Danny Elgert, der Bruder des entführten Itzik Elgert, sagte, dass das Attentat auf die Hamas- und Hisbollah-Führer ein Attentat auf die Geiseln und auf die Verhandlungen sei.
Kriegsmüdigkeit wächst
Bei aller Kritik an der Netanyahu-Regierung ist die zionistische Ideologie noch immer stark. Viele Israelis sind nicht bereit, das Recht der Palästinenser*innen auf nationale Selbstbestimmung und Freiheit anzuerkennen. Das bremst den Aufbau einer linken Kraft in Israel selbst, die den Kampf für die sozialen Interessen der arbeitenden Klasse mit dem Kampf gegen Krieg und Besatzung verbindet. Doch die Kriegsmüdigkeit nimmt zu. Der Raum für linke Interventionen in den Demonstrationen ist größer geworden.
Dazu kommt die gewachsene Erkenntnis, welche Rolle Streiks spielen könnten. Es gab zu verschiedenen Anlässen Protestmärsche zur Zentrale des Histadrut (gewerkschaftlicher Dachverband) in Tel Aviv, bei der Streiks gefordert wurden. Auch in den palästinensischen Gebieten gab es Streiks, mit dem „Streik der Ehre“ im Mai als Höhepunkt. Doch die Histadrut-Führung weigert sich, den Kampf, zum Beispiel für einen Gefangengen-Deal, aufzunehmen. Es gab einige Initiativen von unten, die bedeutsam sind, weil die organisierte Arbeiter*innenschaft eine Schlüsselrolle spielen könnte, um einen Community-übergreifenden Kampf gegen den Krieg, für einen Gefangenenaustausch, für den Wiederaufbau Gazas, ein gutes Leben für alle und gegen die steigenden Lebenshaltungskosten zu führen.
Die “Bewegung Sozialistischer Kampf”, unsere Sektion in Israel-Palästina, ruft dazu auf, die Proteste gegen das Blutbad zu verstärken und in die Arbeitsplätze und Gewerkschaften zu tragen. Als eine sozialistische, internationalistische Klassenkraft tritt sie gegen den Krieg, die Besatzung, in Demonstrationen für einen Gefangenen-Deal und für Neuwahlen ein. Sie leistet einen Beitrag, eine klassenbasierte und kämpferische Linke aufzubauen.
Der Artikel basiert auf einer Stellungnahme des Bundesvorstands der Sozialistischen Kampfbewegung, Sektion der ISA in Israel-Palästina