Weiblich, männlich oder was?

Sozialistischer, queerinklusiver Feminismus statt Transfeindlichkeit – Reihe
Angesichts der Transfeindlichkeit, etwa der bürgerlichen Feminist*innen von der EMMA und anderer, auch mancher Linker, wollen wir uns hier in einer Reihe von Artikeln damit auseinandersetzen, was mit TERFs nicht stimmt, woher ihre falschen Positionen kommen und wie eine marxistische Perspektive zu einem sozialistischen und queerinklusiven Feminismus führt, der für die Befreiung aller Geschlechter kämpft.

Nach allgemein geläufigem Verständnis gibt es zwei Geschlechter: männlich und weiblich.

Inzwischen hat sich weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Geschlecht eine körperliche Komponente (Sex) und eine soziale Komponente (Gender) hat.

Viele Menschen glauben, dass Gender, also das soziale Geschlecht, gesellschaftlichen Veränderungen unterliegt, während das biologische Geschlecht (Sex) eine wissenschaftliche Kategorie ist, mit der Männer und Frauen klar voneinander unterschieden werden können.

Stimmt das eigentlich, oder sind sowohl Gender als auch Sex soziale Konstrukte?

Was ist Gender?

Gender beschreibt die sozialen und kulturellen Merkmale, denen die Gesellschaft geschlechtsindizierende Aussagekraft beimisst. Folglich unterscheidet sich Gender in verschiedenen Kulturen. 

So gibt es in den verschiedenen indigenen Stämmen Nordamerikas „Two Spirits“. Diese Menschen vereinigen die spirituelle männliche Seite und die spirituelle weibliche Seite in sich und waren stets hoch angesehen. Die Gesellschaft der Stadt Amarete in Bolivien kennt sogar zehn soziale Geschlechter. Zwei biologische Geschlechter werden dort mit fünf symbolischen Geschlechtern kombiniert, woraus sich eine komplizierte soziale Hierarchie ergibt. Auf den Philippinen gelten „Baklaa“ (männliches zugewiesenes Geschlecht und weibliches soziales Geschlecht) als drittes Geschlecht. Manchmal werden Tomboys (die philippinische Bezeichnung für Lesben) als viertes genannt.

Auch kompromisslos patriarchale Gesellschaften setzen sich nicht selten über ihre grundsätzlich geltenden Definitionen von „männlich“ und „weiblich“ hinweg, wenn es ihnen erforderlich erscheint, zum Beispiel, wenn einer Familie ein erbberechtigter, männlicher Nachkomme fehlt. In diesem Fall kann die Familie unter anderem bei den nigerianischen Igbo und in Teilen des Balkans entscheiden, dass eine bisherige Tochter zum Sohn „umgewidmet“ wird. Die Person erhält damit das soziale Geschlecht Mann und hat fortan in dieser Rolle zu leben. Die individuell empfundene Geschlechtsidentität der betroffenen Person ist für die Entscheidung nicht ausschlaggebend.

Während der Kolonialisierung wurden zahlreiche kulturelle Konzepte, die nicht der westlichen Vorstellung strikter geschlechtlicher Zweiteilung entsprachen unter Verfolgung der betroffenen Personen zunichte gemacht.

Zweigeschlechtlichkeit und die Rolle von Fortpflanzung

Wenn Gender das soziale Geschlecht beschreibt und Sex das biologische, wie kann dann auch Sex als soziales Konstrukt bezeichnet werden? Biologie ist doch eine „neutrale“ Naturwissenschaft, oder?

Tatsächlich hat das Konzept von Zweigeschlechtlichkeit seine Berechtigung: Fortpflanzungsbiolog*innen unterscheiden zwischen eingeschlechtlicher und zweigeschlechtlicher sexueller Fortpflanzung. Höhere Säugetiere, wie der Mensch, pflanzen sich bisexuell fort. Das bedeutet erstens, dass der Nachwuchs aus der Verschmelzung einer Ei- und einer Samenzelle mit je einem haploiden Chromosomensatz entsteht. Zweitens bedeutet es, dass dieser Nachwuchs im „weiblichen“ Körper ausgetragen wird und dass dieser Körper im gesunden Zustand die Nahrung für die erste Lebensphase des Nachwuchses in Form von Milch produzieren kann. Dieser biologische Vorgang wird durch das Zusammenspiel von verschiedenen Organen und Hormonen gesteuert. Den Körper, der die Samenzelle produziert, nennen wir männlich, den, der die Eizelle produziert und den Embryo austrägt, weiblich.

Wer sich über die biologische Funktionsweise der Fortpflanzung von Lebewesen unterhalten möchte, ist mit Begriffen wie „weibliche bzw. männliche Keimzelle“ oder „weibliche Brustdrüse“ auf der sicheren Seite.

Allerdings ist das biologische Geschlecht bei Menschen sehr viel mehr als nur die Funktionsweise der Fortpflanzungsorgane. Schon die Sexualität, die sich evolutionsgeschichtlich vermutlich als Anreiz entwickelt hat, um die Individuen zu motivieren, die zur Herbeiführung der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle erforderlichen körperlichen Handlungen vorzunehmen, dient beim Menschen tatsächlich nicht nur der Fortpflanzung. Sie hat vielfältige emotionale und soziale Funktionen und in den allermeisten Fällen führen sexuelle Handlungen selbst dann nicht dazu, dass am Ende ein Kind geboren wird, wenn sie in Form einer heterosexuellen Interaktion stattfindet. Viele Menschen sind biologisch gar nicht in der Lage, sich fortzupflanzen, oder verzichten bewusst auf Nachwuchs. Trotzdem wird ihnen im Allgemeinen ein biologisches Geschlecht zugewiesen. Die Kriterien, nach denen diese Zuweisung erfolgt, sind keineswegs „biologisch eindeutig“, sondern gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen.

Sex als soziales Konstrukt

Die biologischen Merkmale, die zur Bestimmung des biologischen Geschlechts beim Menschen herangezogen werden, lassen sich nicht in bloß zwei Varianten, weibliches und männliches Geschlecht, aufteilen. Es existiert ein breites Spektrum geschlechtlicher Ambiguität (Intersex). Ursprünglich behandelte die europäische Wissenschaft Intergeschlechtlichkeit als Störung. Seit den 1970er und 80er Jahren wurden in der Biologie stattdessen Einwände gegen Modelle strikter geschlechtlicher Zweiteilung laut. 

In ihrem Buch Sexing the Body (2000) kritisiert die US-amerikanische Naturwissenschaftlerin Anne Fausto-Sterling die biologische Theoriebildung in Bezug auf das biologische Geschlecht. Die „männlichen“ Androgene und die „weiblichen“ Östrogene sind Hormone, die in allen Menschen vorkommen und wichtige physiologische Funktionen haben. Aus diesem Grund sollten sie nicht als „Geschlechtshormone“ bezeichnet werden, sondern als Wachstumshormone, argumentiert Fausto-Sterling. Dieses Beispiel sowie das intergeschlechtliche Spektrum verdeutlichen, dass bereits das biologische Geschlecht ein soziales Konstrukt ist. Candace West und Don H. Zimmermann zeigten bereits 1987 in ihrem Aufsatz Doing Gender auf, dass Sex zwar auf biologischen Kriterien beruht, diese aber von der Gesellschaft als geschlechtsbestimmend auserwählt wurden. Ebenso wie die Geschlechtshormone auch Wachstumshormone genannt werden könnten, könnten auch Geschlechtsorgane nichts als Fortpflanzungs- oder Sexualorgane sein. 

Bevor die Geschlechtsbestimmung anhand genetischer Merkmale möglich war, wurde das biologische Geschlecht in den meisten modernen Gesellschaften anhand äußerlich sichtbarer Merkmale bestimmt. Heute spielt das Aussehen, z.B. im Sport, keine Rolle mehr. Das musste etwa die Spanierin María José Martínez Patiño 1985 feststellen. Ärzt*innen eröffneten der völlig überraschten Hürdenläuferin 1985 nach einem Gentest, sie sei ein Mann, denn sie habe den männlichen Chromosomensatz XY. Patiño wurde von der Studierenden-WM disqualifiziert.

Sex definiert also keinen klar messbaren biologischen Zustand, sondern eine Auswahl biologischer Merkmale, denen die jeweilige Gesellschaft geschlechtsbestimmende Aussagekraft beimisst. 

Sowohl Sex als auch Gender sind deshalb soziale Konstrukte.

Sozialistischer, queerinklusiver Feminismus statt Transfeindlichkeit

Teil 1: Weiblich, männlich oder was
Teil 2: Was ist transgender und warum? – Eine marxistische Definition
Teil 3: Radikalfeminismus – Eine marxistische Kritik
Teil 4: Was ist TERF und warum ist das „schlechter Feminismus“?